Ein Weiße-Zertifikate-System als soziale und marktbasierte Lösung für den Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD

Energieeinsparverpflichtungssystem mit Fokus auf energiearmen Haushalten
© fStopImages / Malte Müller
Wie läuft die soziale Wärmewende in Deutschland?
Jeder vierte Haushalt „gibt mehr als zehn Prozent seines Einkommens für [Heiz- und Stromkosten] aus“ und insbesondere einkommensschwache Haushalte leiden unter einer hohen Energiekostenbelastung. Energiearmut ist ein Problem in Deutschland. Die novellierte EU-Effizienzrichtlinie fordert die Mitgliedsstaaten auf, Energiearmut zu bekämpfen. Außerdem setzt sie Energieeinsparziele (Artikel 8), die in Deutschland voraussichtlich nicht erreicht. Mangelnde Energieeffizienz führt auch dazu, dass der Gebäudesektor seine Klimaziele verfehlt. Angesichts angespannter Haushaltskassen ist die Finanzierung von Klimaschutzmaßnahmen bei Einhaltung der Schuldenbremse eine weitere Herausforderung.
Kurzum: Es besteht Bedarf, den deutschen Politik-Mix weiterzuentwickeln. Dafür bietet sich ein Weiße-Zertifikate-System an.
Was ist ein Weiße-Zertifikate-System?
Energieeinsparverpflichtungssysteme (englisch: Energy Efficiency Obligation System, EEOS) sind ein etabliertes Instrument. 2019 gab es weltweit circa 46 Systeme und 15 in EU-Staaten. Die Grundidee des Instruments ist es professionelle Akteure zu verpflichten eine bestimmte Menge an Energieeinsparungen nachzuweisen. Meistens werden Energieversorgungsunternehmen wie zum Beispiel Stadtwerke verpflichtet. Diese führen dann Effizienzmaßnahmen bei ihren Kund*innen durch wie zum Beispiel neue Beleuchtung, Dämmung, Fenstertausch oder Wärmepumpen.
Für Bürger*innen bedeutet das System keine Verpflichtung. Sie profitieren vielmehr davon, dass ihnen kostenlose Angebote für Effizienzmaßnahmen gemacht werden, die ihre Energiekosten senken. EEOS steigern also die „Service-Orientierung“ eines Politik-Mix. Außerdem ist es ein marktbasiertes und ökonomisch effizientes Instrument: Die Verpflichteten sind bemüht, die kostengünstigsten Maßnahmen mit der höchsten Einsparung zu realisieren. In manchen Systemen können Einsparzertifikate gehandelt werden. In diesem Fall spricht man von Weiße-Zertifikate-Systemen. Die Kosten für die Umsetzung der Effizienzmaßnahmen werden auf alle Kund*innen des beispielsweise verpflichteten Energieversorgungsunternehmens umgelegt. Dadurch steigen die Energiepreise leicht an.
Zusätzlich kann festgelegt werden, dass die Verpflichteten – so zum Beispiel Stadtwerke – nur die Einsparmaßnahmen, die bei energiearmen Haushalten durchgeführt werden, auf ihr Einsparziel anrechnen können. Auf diese Weise wird ein Markt für Energieeinsparungen geschaffen, der genau diejenigen erreicht, die am stärksten unter hohen Energiekosten leiden: Haushalte mit geringem Einkommen in ineffizienten Gebäuden oder mit ineffizienten Geräten.
Wirkungsweise eines Weiße-Zertifikate-Systems, eigene Abbildung
Was können wir aus anderen Ländern lernen?
Um uns herum gibt es seit vielen Jahren Energieeinsparverpflichtungssysteme. Einige davon legen einen besonderen Fokus darauf energiearme Haushalten zu unterstützen. Dazu zählt die Energy Company Obligation (ECO) im Vereinigten Königreich und das Certificats d’Economies d’Energie (CEE) in Frankreich.
Übersicht von Staaten mit EEOS, eigene Abbildung auf Basis von ENSMOV 2020 und Rosenow und Bayer 2016
In Großbritannien wurde die ECO erstmals im Jahr 2013 eingeführt. Die aktuelle Version, die ECO4, konzentriert sich gezielt auf die Unterstützung energiearmer Haushalte durch Energieeffizienzmaßnahmen. Hierzu zählen Dämmungsarbeiten oder der Austausch ineffizienter Heizsysteme. 21 Energieversorgungsunternehmen sind zur Umsetzung verpflichtet. Seit Programmbeginn wurden bereits 2,4 Millionen vulnerable Haushalte mit wenig Einkommen unterstützt. Die Kosten für die Effizienzmaßnahmen werden auf alle Verbraucher*innen umgelegt, wodurch das Programm von öffentlichen Geldern und politischen Veränderungen unabhängig ist.
Das französische Energieeinsparzertifikat CEE wurde 2006 eingeführt. Es werden Energieversorger, also Strom-, Gas-, Heizungs- und andere Energieanbieter, verpflichtet. Sie können ihre Energieeinsparziele entweder durch eigene Energieeffizienzmaßnahmen oder durch den Erwerb von Weißen Zertifikaten erfüllen. Diese Zertifikate können von anderen verpflichteten Akteuren, die nachweislich Energie eingespart haben, verkauft werden. Mindestens 25 Prozent der Einsparungen müssen in Haushalten erfolgen, die von Energiearmut betroffen sind.
Was spricht dafür in Deutschland ein Weiße-Zertifikate-System einzuführen?
Wir schlagen vor von unseren Nachbarn zu lernen und auch in Deutschland ein Weiße-Zertifikate-System einzuführen – mit Fokus auf energiearme Haushalte. Dazu könnten Betreiber von Gas-, Strom- und Fernwärmenetzen sowie Heizölgroßhändler dazu verpflichtet werden, alle zwei Jahre Einsparungen nachzuweisen. Damit sind alle Energieträger bis auf Biomasse abgedeckt, deren Vertriebswege zu kleinteilig sind. Kleine Netzbetreiber könnten von der Verpflichtung befreit werden.
Ein Energieeffizienzverpflichtungssystem schafft einen Markt für Energieeinsparungen. Dadurch werden professionelle Akteure wie Energiedienstleistungsunternehmen und Stadtwerke mobilisiert, der Energiewende zusätzlichen Auftrieb zu verschaffen. Die verpflichteten Akteure müssen Haushalte überzeugen, bei ihnen Energie einsparen zu dürfen. Bürger*innen werden zu nichts verpflichtet. Sie erhalten vielmehr kostenlose Unterstützung bei ihrer privaten Wärmewende von Akteuren, denen sie vertrauen wie zum Beispiel ihren Stadtwerken. Dies stärkt die Service-Komponente des Politik-Mix der Wärmewende.
Das System bietet insbesondere auch für Gasnetzbetreiber eine Chance, die in einer emissionsfreien Zukunft ihr Geschäftsfeld verlieren. Sich jetzt auf Energiedienstleistungen zu spezialisieren, kann ihnen bei ihrer Transformation helfen – zumal sie die Kosten für die umgesetzten Maßnahmen auf ihre Kund*innen umlegen dürfen.
Ein Weiße-Zertifikate-System legt die Kosten für die Effizienzmaßnahmen auf alle Kund*innen um. Es besteht eine gewisse Analogie zur EEG-Umlage, mit der der Ausbau erneuerbarer Energien erfolgreich vorangetrieben wurde – bloß mit dem Vorteil, dass nicht Strom, der Energieträger der Zukunft, sondern Erdgas und Heizöl verteuert werden. Für deren Wegwechsel braucht es sowieso preisliche Anreize. Ein Weiße-Zertifikate-System wirkt also ähnlich wie ein CO₂-Preis.
Ein weiterer Vorteil ist, dass das System umlagefinanziert ist. Insbesondere in Zeiten eines angespannten Bundeshaushalts und unter der Einhaltung der Schuldenbremse bietet ein Weiße-Zertifikate-System eine zukunftssichere Lösung zur Co-Finanzierung der Energiewende.
Damit die Effizienzmaßnahmen mit dem besten Kosten-Nutzen-Verhältnis umgesetzt werden, schlagen wir vor, dass Einspar-Zertifikate („Weiße Zertifikate“) gehandelt werden können (siehe auch Bürger und Wiegmann 2007) . Auf diese Weise müssen beispielsweise Stadtwerke auch nicht selbst aktiv werden, sondern nur Zertifikate in ausreichender Höhe erwerben.
Mit einem Fokus auf energiearmen Haushalten kann ein Weiße-Zertifikate-System dazu beitragen, durch zielgerichtete Unterstützung die soziale Ausgewogenheit der Energiewende zu stärken – und damit auch die Motivation für Klimaschutzmaßnahmen.
Sabrina Hopf hat ihre Masterarbeit zu Energieverpflichtungssystemen am Öko-Institut geschrieben. Die Wissenschaftler Malte Bei der Wieden und Dr. Veit Bürger arbeiten beide im Institutsbereich „Energie & Klimaschutz“ am Öko-Institut in Freiburg.