"Strom aus neuen Atomkraftwerken ist unwirtschaftlich"
Interview des Goethe-Instituts mit Michael Sailer, stellvertretender Geschäftsführer des Öko-Instituts
Hat Atomenergie in Deutschland eine Zukunft? Wie sicher sind deutsche Atomkraftwerke? Wir haben darüber mit Michael Sailer vom Öko-Institut in Darmstadt gesprochen.
Herr Sailer, die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder hat 2001 zusammen mit den Kraftwerkbetreibern den Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen. Bis 2022 sollen alle 19 deutschen Atomkraftwerke abgeschaltet sein; die ältesten Anlagen – in Stade und Obrigheim – sind bereits vom Netz gegangen. Was spricht eigentlich für den Ausstieg aus der Atomenergie?
Michael Sailer: Aus meiner Sicht gilt vor allem das Sicherheitsargument. In allen Atomreaktoren heutiger Bauart sind aus physikalischen Gründen prinzipiell schwere Kernschmelzunfälle möglich. Solche Unfälle können zu einer sehr massiven Radioaktivitätsfreisetzung führen, die weite Landstriche auf Dauer verseucht. Kernschmelzunfälle können dann entstehen, wenn mehrere Sicherheitssysteme aufgrund der Verkettung unglücklicher Umstände im Anforderungsfall ausfallen. Leider lassen sie sich auch absichtlich herbeiführen, was in der heutigen Weltlage zu besonderen Bedenken Anlass gibt.
Andere Länder setzen ja durchaus noch auf Kernkraft. Finnland beispielsweise baut neue Atomkraftwerke; Frankreich und die USA haben die Laufzeiten ihrer Atomkraftwerke auf bis 40 bzw. 60 Jahre verlängert. In Deutschland heißt es, Atomstrom sei unwirtschaftlich. Wie passt das zusammen?
Michael Sailer: Strom aus neuen Atomkraftwerken ist unwirtschaftlich, weil heute die realen Baukosten viel zu hoch sind. Das wird sich auch noch zeigen, wenn der Reaktor in Finnland in Betrieb geht. Andererseits ist Strom aus bestehenden Atomkraftwerken billig, weil die Anlagen schon weitgehend abgeschrieben sind. Dies ist auch der Grund, warum in den USA trotz jahrelanger Bemühungen der amerikanischen Regierung keine neuen Atomkraftwerke gebaut werden, sondern die Verlängerung der Betriebsdauer von ursprünglich 40 auf jetzt 60 Jahre angestrebt wird und zum erheblichen Teil bereits genehmigt ist. Nur aus den alten Anlagen mit verlängerter Lebenszeit kann dort billiger Atomstrom kommen.
Zurzeit werden 26 Prozent des Stroms in Deutschland in Atomkraftwerken erzeugt. Wie realistisch ist es, dass dieser große Anteil bis 2022 anders abgedeckt wird?
Michael Sailer: Bis 2022 muss ohnehin ein erheblicher Teil des Kraftwerkparks erneuert werden, bei geeigneter Planung lässt sich die notwendige Umstrukturierung durch den Zubau an regenerativen Kraftwerken, insbesondere auf Basis von Biomasse und Wind sowie verstärkte Wärme-Kraft-Kopplung, erreichen. Dies zeigen viele einschlägige Studien. Hinzu kommt, dass wir immer noch ungenutzte Energiesparpotenziale haben.
Schätzungen zufolge helfen die Atomkraftwerke in der EU, jährlich 830 Millionen Tonnen Kohlendioxid zu vermeiden. Gehen mit dem Atomausstieg zwangsläufig höhere Emissionen von Treibhausgas einher?
Michael Sailer: Die zitierten Studien zeigen, dass der Atomausstieg nicht zu höheren Emissionen führen muss. Der Ersatz durch regenerative Stromerzeugung und Energiesparmaßnahmen ist kohlendioxidfrei. Eine weitere Voraussetzung ist, dass gleichzeitig die fossil befeuerten Kraftwerke auf höhere Effizienzgrade und damit geringere CO2-Emissionen pro erzeugter Kilowattstunde gebracht werden.
Gegner der Atomenergie führen immer wieder folgendes Argument ins Feld: Die erneuerbaren Energien wären längst konkurrenzfähig, wenn man die Forschungsgelder, die in die Kernkraft geflossen sind, in die Entwicklung erneuerbarer Energien gesteckt hätte. Ist diese These haltbar?
Michael Sailer: Dies ist ein Argument von gestern. Tatsächlich gibt die heutige Gesetzgebung zur Förderung der Einspeisung regenerativer Energien den geforderten Entwicklungsschub, der sich auch in einem entsprechenden Wachstum des Anteils der Erneuerbaren zeigt. Die deutsche Gesetzgebung in diesem Feld ist übrigens inzwischen von mehreren Dutzend anderer Länder zum Vorbild genommen worden.
Der Atom-Katastrophe von Tschernobyl liegt nun 20 Jahre zurück. Von Atomkraftbefürwortern hört man damals wie heute, dass die AKWs in Deutschland erheblich sicherer seien und ein solcher Unfall hier nicht möglich gewesen wäre. Stimmen Sie dem zu?
Michael Sailer: AKWs in Deutschland sind sicherer geworden, gerade weil man nach Tschernobyl eingesehen hat, dass auch in deutschen Reaktoren schwere Unfälle – wenn auch aufgrund anderer physikalischer Abläufe – möglich sind, und deshalb die Vorsichtsmaßnahmen technischer wie organisatorischer Art erhöht werden mussten. Aber – ein schwerer Unfall ist zwar unwahrscheinlicher geworden, aber weiterhin nicht auszuschließen.
Gilt der Atomstrom eigentlich nur deshalb als günstig, weil die Kosten für die Entsorgung radioaktiver Abfälle nicht mit eingerechnet sind?
Michael Sailer: Die Kosten für die Entsorgung lassen sich heute ungefähr beziffern. Sofern die endgültige Behandlung durch die Endlagerung in tiefen geologischen Schichten rechtzeitig realisiert wird, ergeben sich daraus keine übergroßen Anteile an den realen Kosten des Atomstroms. Große Kostenrisiken entstehen vielmehr bei den Aufräumarbeiten im Zuge der Abwicklung von nuklearen Uraltprojekten und durch die nicht abschätzbaren Folgen von schweren Unfällen.
Das Problem der Entsorgung radioaktiver Abfälle ist weiterhin ungelöst. Auf der ganzen Welt gibt es bis heute kein Endlager für hochradioaktive Abfälle. Was passiert eigentlich zurzeit mit den deutschen Abfällen?
Michael Sailer: Die Abfälle werden zurzeit zwischengelagert. Die Zwischenlager sind für einige Jahrzehnte aus sicherheitstechnischer Sicht geeignet. Deshalb muss unbedingt dafür gesorgt werden, dass baldmöglichst Endlager in Deutschland, einerseits für den hochradioaktiven Müll, andererseits für die mehrere hunderttausend Kubikmeter schwach- und mittelaktiven Müll, zur Verfügung stehen.
Warum ist das Problem der Endlagerung nicht längst gelöst? Mangelt es an gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen?
Michael Sailer: An den wissenschaftlichen Erkenntnissen liegt es nicht. Diese liegen vor, soweit sie für die Entscheidung über den Standort und für den Start des Genehmigungsverfahrens erforderlich sind. Ich bin gespannt, ob die jetzige Koalition eine Entscheidung schafft.
Die Atombranche hat mit Nachwuchsmangel zu kämpfen. Warum sollten sich junge Menschen heute – nach dem deutschen Atomausstieg – zu Kernphysikern ausbilden lassen?
Michael Sailer: In der Atombranche werden nach der jetzigen Gesetzeslage für den Betrieb und den sicheren Rückbau Fachleute für mehr als 30 Jahre gebraucht, im Bereich der Endlagerung sogar noch Jahrzehnte länger. Deshalb lohnt es sich auch für junge Leute eine Beschäftigung in dieser Branche anzustreben.
Glauben Sie, dass es in Deutschland einen Ausstieg aus dem Atomausstieg geben wird, wie er von Teilen der CDU und der FDP gefordert wird?
Michael Sailer: Dies hängt von vielen Unwägbarkeiten ab. Möglich ist in zehn Jahren sowohl der Ausstieg aus dem Ausstieg als auch die Beibehaltung des Ausstiegs.
Michael Sailer, geboren 1953, ist Diplom-Ingenieur der Fachrichtung technische Chemie. Er ist seit 1980 im Darmstädter Büro des Öko-Instituts e.V. tätig, hat dort den Fachbereich "Nukleartechnik & Anlagensicherheit" aufgebaut und ist stellvertretender Geschäftsführer des Instituts. Schwerpunkte seiner Tätigkeit sind Fragen der Entsorgung und Endlagerung sowie der Sicherheit kerntechnischer Anlagen. Seit 1999 ist er Mitglied der Reaktor-Sicherheitskommission, die das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz- und Reaktorsicherheit berät. Von März 2002 bis März 2006 war er Vorsitzender dieser Kommission.
Die Fragen stellte Dagmar Giersberg. Sie arbeitet als freie Publizistin in Bonn.
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Dossier: Auf dem Weg zu einer Kultur der Nachhaltigkeit
Dossier zum Thema Nachhaltigkeit des Goethe-Instituts mit Artikeln, Interviews und Videos zu den Themenbereichen nachhaltig bauen und gestalten, nachhaltig denken, nachhaltig leben und lernen sowie nachhaltig wirtschaften.