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Im Fokus

Nachhaltige Lieferketten

9 Thesen für mehr Verantwortung

Christiane Weihe

Spätestens als 2013 in Bangladesch der Rana Plaza-Komplex einstürzte und 1.138 Menschen ihr Leben verloren, rückte eine wichtige Frage auch ins deutsche Bewusstsein: Woher kommt eigentlich das T-Shirt, das ich gerade trage? Wer hat den Stoff zugeschnitten, die Nähte versäumt – und vor allem: unter welchen Bedingungen? Denn zahlreiche westliche Unternehmen ließen dort Kleider nähen, trotz offensichtlich unzureichender Sicherheitsstandards. Für den einzelnen Konsumenten ist es schwer, die weit verzweigten Lieferketten nachzuvollziehen, das „Made in...“-Schild im T-Shirt gibt nur eine grobe Orientierung. Aber auch für Unternehmen ist der Weg zur nachhaltigen Produktion oftmals hochkomplex und steinig. Das Öko-Institut setzt sich für nachhaltige Lieferketten ein und hat neun Thesen formuliert, die mehr Verantwortung einfordern. Sie nehmen dabei Unternehmen in die Pflicht, aber auch die Politik, die sich für angemessene Rahmenbedingungen engagieren, Maßstäbe setzen und ihre Einhaltung prüfen muss.

„Die neun Thesen sind nach dem Forschungsprojekt IMPACT entstanden, in dem wir im Auftrag der EU-Kommission die Wirksamkeit von Aktivitäten im Rahmen der Corporate Social Responsibility, kurz CSR, untersucht haben“, erklärt Christoph Brunn vom Öko-Institut. IMPACT zeigte: CSR-Aktivitäten haben einen erkennbaren, aber nur leicht positiven Effekt. „Wir haben außerdem gesehen: Freiwilligkeit reicht nicht aus, wir brauchen politische Maßnahmen für mehr Nachhaltigkeit im unternehmerischen Handeln“, sagt der Experte aus dem Institutsbereich Umweltrecht & Governance. Im Anschluss an das Projekt formulierten die Wissenschaftler klare Aussagen zu CSR, aus denen neun Thesen hervorgingen, die sich explizit Lieferketten widmen.

Die erste These unterstreicht die Tragweite unternehmerischer Verantwortung:

1. CSR BEDEUTET HEUTE, DIE VERANTWORTUNG FÜR DIE GESELLSCHAFTLICHEN AUSWIRKUNGEN DES UNTERNEHMENS ZU ÜBERNEHMEN – AUCH ENTLANG DER LIEFERKETTE.

„Das klingt vielleicht banal, ist es aber nicht“, sagt Brunn. „lange galt Unternehmensverantwortung als freiwillige Maßnahmen, die sich nur auf den eigenen Betrieb beziehen. Es geht aber um alle gesellschaftlichen Auswirkungen und damit um die gesamte Lieferkette.“ Und die reicht im Falle des T-Shirts bis zur Anpflanzung der Baumwolle zurück.

Doch nicht jede Station einer Lieferkette birgt die gleichen Probleme:

2. ES GIBT SPEZIFISCHE BRENNPUNKTE GLOBALER LIEFERKETTEN (HIGH-RISK-AREAS) – DIESE MÜSSEN IDENTIFIZIERT WERDEN.

„Am Beispiel Rana Plaza hat sich klar eine High Risk Area der Textilindustrie gezeigt: Nähereien in einem Billiglohnland mit katastrophalen Arbeitsbedingungen und mangelnden Sicherheitsstandards“, so der Experte.

Dass Verbraucher eher jene Produkte kaufen, deren Herstellung sozial und ökologisch verantwortungsvoll erfolgt – daran arbeiten Umweltzeichen wie der Blaue Engel. In einer „Machbarkeitsstudie zur Integration sozialer Aspekte in das deutsche Umweltzeichen Blauer Engel am Beispiel von Tablet-PCs“ untersuchen die Wissenschaftler des Öko-Instituts derzeit im Auftrag des Umweltbundesamts, ob und wie sich soziale Themen integrieren lassen und wie sich die Einhaltung definierter Kriterien nachweisen lässt. „Bislang sind im Blauen Engel nur in der Produktgruppe Schuhe und Textilien soziale Aspekte integriert“, sagt Tobias Schleicher vom Öko-Institut, „hier müssen die Zeichennehmer gewährleisten, dass in der gesamten Wertschöpfungskette die Kernnormen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO eingehalten werden.“ Bei den im aktuellen Forschungsvorhaben untersuchten Tablet-PCs sehen die Wissenschaftler vor allem in den folgenden Bereichen soziale Brennpunkte: beim Rohstoffabbau, bei der Elektronikproduktion sowie beim Recycling und der Entsorgung. „Die Arbeiten zeigen, dass es unbedingt notwendig ist, Unternehmen in diesen Bereichen zu verpflichten, ihren menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten nachzukommen“, erklärt Schleicher, der im Institutsbereich Produkte & Stoffströme tätig ist, „denn für sich allein ist ein freiwilliger Ansatz nicht zielführend, das zeigen die Erfahrungen der vergangenen Jahre.“

Zertifizierungen und Umweltzeichen sind ein wichtiger Schritt für nachhaltigere Lieferketten – und eine bessere Orientierung der Verbraucher. Zusätzlich braucht es die Aufmerksamkeit des Staates:

3. CSR UND REGULIERUNG SIND KEINE ENTWEDER-ODER-OPTIONEN, SONDERN KOMPLEMENTÄR ZU NUTZEN.

„Das Projekt IMPACT hat gezeigt: Freiwillige Maßnahmen gibt es auch dort, wo reguliert wird. Dies schafft sogar Anreize für die Unternehmen, über Verpflichtungen hinaus zu gehen, weil durch die Regulierung relevante Nachhaltigkeitsaspekte ins Bewusstsein gerückt werden“, sagt Brunn, „der Verzicht auf staatliche Eingriffe unter Verweis auf freiwillige Maßnahmen oder Selbstverpflichtungen ist deshalb ein Fehlschluss.“ Staatliche Eingriffe müssten aber auch eine wünschenswerte Wirkung erzielen:

4. AUCH BEI REGULIERUNG MUSS AUF DIE REALE ERREICHUNG POSITIVER IMPACTS GEACHTET WERDEN.

Denn Maßnahmen, die dazu gedacht sind, soziale oder ökologische Verbesserungen zu bringen, können in der Realität auch andere Wirkungen entfalten. „Dies zeigen beispielsweise verschiedene Zertifizierungsansätze für Rohstoffe, die verbesserte Bedingungen bei Kleinproduzenten bewirken wollen, oft jedoch für genau solche Akteure eine zusätzliche Marktzugangshürde darstellen“, so Schleicher. Zudem gilt:

5. DIE FORDERUNG NACH UMFASSENDER TRANSPARENZ GREIFT ZU KURZ UND WIRD DER KOMPLEXITÄT GLOBALER LIEFERKETTEN NICHT GERECHT.

Denn der Wunsch nach einer perfekten Rückverfolgbarkeit aller Materialströme kann schnell ein Übermaß an Bürokratie erzeugen. „Selbst wenn alle Materialien bis auf ihren Ursprung zurückverfolgt werden könnten, wären damit nicht alle Probleme aus der Welt. Es besteht die Gefahr, dass ein Großteil der Mittel in Maßnahmen zur höheren Transparenz gesteckt werden, während die Bekämpfung der Problemursachen auf der Stelle tritt“, erklärt Schleicher. Das verdeutlicht eine Studie zu Konfliktmineralien, die das Öko-Institut für den Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) durchgeführt hat. „Dieses Projekt zeigte, dass die Politikinstrumente über Transparenz alleine hinaus gehen müssen und zum Beispiel beim Thema Konfliktmineralien auch die Förderung von verantwortungsvollem Bergbau eine sehr wichtige Rolle spielt, um die Situation vor Ort wirklich zu verbessern.“

Wie vielschichtig die Frage nach der Etablierung nachhaltiger Lieferketten ist, zeigt auch die sechste These des Öko-Instituts:

6. DIE FRAGE NACH UNTERNEHMERISCHER VERANTWORTUNG UND IHRER REICHWEITE MUSS BEANTWORTET WERDEN – AUCH RECHTLICH.

„Fragen wir nach der Verantwortung für die Lieferkette, ist das bislang eine moralische Verantwortung“, sagt Brunn, „rechtlich ist noch nicht gänzlich geklärt, inwiefern Unternehmen haftbar sind.“ Das zeige unter anderem ein Fall, der derzeit vor dem Landgericht Dortmund verhandelt wird: Vier Pakistanis haben das Textilunternehmen KiK wegen des Brandes in einer Fabrik in Karatschi verklagt, sie erhalten dafür Prozesskostenhilfe. „Es ist wichtig zu klären, wie weit die unternehmerische Verantwortung juristisch geht und wo der Staat gefragt ist. Es wird aber dauern, bis das verbindlich geregelt ist“, so Brunn. Ansätze könnten hier die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte liefern, die in Deutschland in einem Nationalen Aktionsplan für Wirtschaft und Menschenrechte umgesetzt werden sollen, ergänzt Tobias Schleicher: „Sie ruhen auf den drei Säulen Protect, Respect, Remedy, also dem staatlichen Schutz der Menschenrechte, der Respektierung derselben durch Unternehmen sowie Möglichkeiten zur Wiedergutmachung im Falle von Menschenrechtsverletzungen. Der aktuelle Entwurf der Bundesregierung sieht allerdings wieder nur freiwillige Anforderungen für die deutschen Unternehmen vor. Das wäre eine große Enttäuschung und würde die aktuelle Situation kaum verbessern.“ Und bislang gilt:

7. DAS WISSEN ÜBER DIE WIRKUNGEN VON MASSNAHMEN ZUM LIEFERKETTENMANAGEMENT IST OFT SCHWACH AUSGEPRÄGT UND MUSS VERBESSERT WERDEN.

Im Projekt Global Value prüfen die Wissenschaftler des Öko-Instituts noch bis Mitte 2017 die Wirkungen unterschiedlicher Nachhaltigkeitsinstrumente. Sie analysieren in Fallstudien zu den Themen Tee, Gold und Textilien, welchen Einfluss externe Strukturen auf die Bedingungen in rohstofffördernden und produzierenden Ländern haben – so etwa Zertifizierungen und Produktlabels. So untersuchten die Wissenschaftler die Teeproduktion in Tansania anhand von dort für zwei europäische Händler produzierenden Plantagen. „Die Analyse zeigt, dass hier insbesondere internationale Zertifizierungsstandards etwa von Fairtrade oder der Rainforest Alliance einen Einfluss haben. Wie hoch dieser ist, kann wiederum kaum pauschal beantwortet werden“, erklärt Brunn.

Wie nun können nachhaltige Lieferketten etabliert werden, welche Instrumente sind wirksam und reichen die bisherigen Maßnahmen hierfür aus? Das Öko-Institut sagt:

8. FÜR DIE WEITERENTWICKLUNG DES LIEFERKETTENMANAGEMENTS MÜSSEN NEUE ANSÄTZE UNTERSTÜTZT WERDEN.

„Das können Kooperationen zwischen Staaten oder innerhalb von Branchen ebenso sein wie eine verpflichtende, standardisierte Berichterstattung“, sagt Tobias Schleicher. Ergänzend formuliert die neunte These:

9. DABEI IST ENTSCHEIDEND, DASS UNTERNEHMEN POLITISCHE SOWIE TECHNISCHE UNTERSTÜTZUNG BEKOMMEN.

Dazu gehören unter anderem die Definition der High Risk Areas, die besondere Sorgfaltspflichten erfordern, und ein verbessertes Wissen über erfolgreiche Ansätze für ein nachhaltiges Lieferkettenmanagement sowie die bestehenden Hemmnisse. „Nicht alle Aufgaben können einseitig Unternehmen zugeschoben werden. Vieles ist effektiver von staatlicher Seite zu organisieren statt jedes Unternehmen zum Beispiel High Risk Areas selbst identifizieren zu lassen“, erklärt Brunn.

Die beiden Wissenschaftler vom Öko-Institut kennen die Problematik nachhaltiger Lieferketten gut, beide wissen: Es gibt keine einfachen Lösungen, dafür sind globale Lieferketten zu weit verzweigt, die Zusammenhänge mit den jeweils vorherrschenden politischen und gesellschaftlichen Systemen zu groß und die Aufgabenstellungen somit zu komplex. „Beim Thema Lieferketten ist oft schwer zu beantworten, was das genau heißt: die positive Auswirkung einer Maßnahme“, sagt Christoph Brunn, „es gibt zum Beispiel Fälle, bei denen mit den schlechten Arbeitsbedingungen auch gleich die Jobs verschwinden.“ Beide Experten sagen aber auch: Es gibt gute Ansätze. „Dazu gehört zum Beispiel, dass man sich aus Brennpunktgebieten nicht einfach aus der Verantwortung stiehlt, sondern gezielt jene Initiativen unterstützt, die verantwortungsvoll arbeiten“, so Tobias Schleicher, „das kann helfen, einen wirkungsvollen Beitrag dazu zu leisten, dass es den Menschen in den Herkunftsländern wirklich besser geht.“