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Im Fokus

Ein Teppich für Debatten

Der World Nuclear Industry Status Report

Christiane Weihe

Derzeit gibt es weltweit 409 Kernreaktoren in Betrieb. Das sind 29 weniger als noch 2002. Die meisten von ihnen – insgesamt 92 – stehen in den USA, dann folgen Frankreich mit 56 und China mit 55 Reaktoren. Fünf Fakten aus einer Publikation, die zu einem Standardwerk für alle geworden ist, die sich über die Entwicklung der globalen Atomindustrie informieren wollen: dem World Nuclear Industry Status Report (WNISR). Er zeigt auch, wie viel Strom die Atomkraftwerke rund um den Globus produzieren, wo neue Reaktoren gebaut werden und von wem. „Darüber hinaus vergleichen wir zum Beispiel die Entwicklung von Atomenergie und erneuerbaren Energien und beschäftigen uns mit der Frage, inwieweit kriminelle Aktivitäten wie etwa Korruption im Atomsektor eine Rolle spielen“, erklärt ­Mycle Schneider, Initiator und Herausgeber des WNISR. 2021 widmete der Bericht dem 35. Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl und dem 10. Jahrestag jener von Fukushima jeweils ein Sonderkapitel. „Hierfür haben wir eine ukrainische Expertin sowie vier japanische Autor*innen beschäftigt, die sich etwa Fragen der Gesundheitsfolgen oder der Kosten gewidmet haben.“ Auch 2022 gibt es ein spezielles Fokuskapitel: zum Thema Atomkraft und Krieg.

Der Kernbericht wird von Expert*innen erstellt, die hauptberuflich etwa in Think Tanks oder an Universitäten arbeiten. Auch der ehemalige Geschäftsführer des Öko-Instituts Michael Sailer gehörte 2022 zu den Kontributor*innen. „Darüber hinaus kümmert sich eine Dateningenieurin fast in Vollzeit um die Betreuung der Datenbank“, sagt Schneider. „Wir haben in fast allen Ländern, über die wir berichten, Kontakte, die wir nach spezifischen Informationen fragen können.“ Dennoch sei es mitunter schwer, an Daten zu kommen. „Etwa mit Blick auf die schwimmenden Reaktoren in Sibirien – es lässt sich kaum sagen, welche Gründe zu deren miserablen Auslastung führen.“

Die Aufgabe des WNISR, der unter anderem mit Unterstützung der MacArthur Foundation und der Heinrich Böll Stiftung herausgegeben wird, sieht Mycle Schneider zum einen darin, unabhängige Informationen zur Kernenergie in energiepolitischem Kontext zur Verfügung zu stellen, einen „Teppich für Debatten“ zu liefern. „Diese sind ja nicht zielführend, wenn man nicht auf einer allseits akzeptierten Grundlage diskutiert.“ Gleichzeitig sollen Falschinformationen zurechtgerückt werden. „Wenn die Internationale Atomenergie-Organisation zum Beispiel sagt, dass in Japan 33 Reaktoren ‚in Betrieb‘ sind, wir aber wissen, dass davon de facto nur höchstens zehn Strom produzieren, klären wir das auf.“

Der Herausgeber sieht zudem eine wachsende Lücke zwischen der Realität des Kernenergiesektors und dessen Wahrnehmung – in der Gesellschaft, aber auch bei Entscheidungsträger*innen. „Ich bin davon überzeugt, dass die meisten Menschen denken, dass es mit der Atomkraft weltweit aufwärts geht. Dabei ist genau das Gegenteil der Fall: Die angebliche Renaissance der Atomenergie existiert nicht, es geht schon seit Jahren mit ihr bergab.“ Auch hierfür liefert Mycle Schneider aussagekräftige Fakten. „Die meisten Reaktoren waren 1979 im Bau, Mitte der 1980er Jahre gab es die höchste Zahl der Betriebsaufnahmen. 2021 erzeugte die globale Atomindustrie 2.653 Terrawattstunden Strom – also noch ungefähr so viel wie bei ihrem bisherigen Maximalwert von 2.660 Terrawattstunden im Jahr 2006. Doch der Anteil der Atomkraft an der kommerziellen Stromerzeugung sinkt seit 25 Jahren: 1996 erreichte sie mit 17,5 Prozent den Höchststand, 2021 ist dieser Wert erstmals seit vier Jahrzehnten wieder unter zehn Prozent gefallen.“