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Im Fokus

“Das Land des nuklearen Irrsinns“

Interview mit Yves Marignac (Association négaWatt)

Christiane Weihe

Frankreich verlässt sich wie kaum ein anderes europäisches Land auf die Kernenergie: Insgesamt etwa 67 Prozent des Strombedarfs stammen da­raus. Doch die Nutzung der Atomkraft läuft dort bei Weitem nicht reibungslos: Im Sommer leiteten Atomkraftwerke wärmeres Kühlwasser in überhitzte Flüsse, im September dieses Jahres standen unter anderem wegen Wartungsarbeiten 32 Reaktoren still, die Versorgungssicherheit ist gefährdet. Yves Marignac ist ein Experte für den französischen Energiemarkt. Im Interview mit eco@work berichtet der Fachbereichsleiter der Association négaWatt über die Ursachen für das französische Festhalten an der Kernenergie trotz all ihrer Probleme und die Möglichkeiten eines Wandels in der Atompolitik.

Monsieur Marignac, warum spielt die Atomkraft in Frankreich so eine große Rolle?

Dafür gibt es aus meiner Sicht drei wesentliche Gründe. Zum einen kommt es aus der Geschichte unseres Landes. In den 1970er Jahren entstand in Frankreich mit der Kernenergienutzung das Narrativ der billigen Energie für alle. Dies sollte ein Monopol des Unternehmens Électricité de France, kurz EDF, gewährleisten. Die starke Reaktorflotte wurde gewissermaßen ein Teil der französischen Identität. Zweitens haben die Regierung und die Nuklearindustrie immer auf eine Art beständiges Wachstum gesetzt, was zu einer Reihe von strategischen Fehlentscheidungen geführt hat. Da sie nicht bereit sind, Fehler anzuerkennen sowie sich den industriellen und finanziellen Konsequenzen zu stellen, entwickeln sie immer neue Narrative, um so tun, als sei alles in Ordnung. Drittens sind in Frankreich die zivile und die militärische Nutzung der Atomkraft eng verbunden. Präsident Emmanuel Macron hat 2020 eingeräumt, dass das eine nicht ohne das andere geht.

So tun, als sei alles in Ordnung – wie geht das in der aktuellen Krisensituation?

Viele Akteur*innen verweigern sich der Realität, weil sie so tief in der Misere mit drinstecken. Es gibt in Frankreich eine starke Verbindung zwischen der Regierung und der Nuklearlobby. Und diese ist immer noch in der Lage, die öffentliche Debatte stark zu beeinflussen. Aber natürlich gibt es auch Diskussionen und Reaktionen auf die aktuelle Situation. Das zeigt sich zum Beispiel an einem Haltungswechsel beim Thema Suffizienz, also der Begrenzung des Energieverbrauchs. Noch vor einem Jahr hat Macron das mit dem Lebensstil der Amish verglichen, die zum Beispiel moderne Technologien ablehnen. Nun aber veröffentlicht die Regierung einen Suffizienz-Plan.

Wie reagiert die französische Nuklear­industrie auf die aktuelle Situation?

Ich sage oft: Es gibt zwei Dinge, die die Nuklearindustrie am besten kann. Versprechungen zu machen – und sie nicht zu halten. Das zeigt sich etwa am Beispiel des Europäischen Druckwasserreaktors, kurz EPR, in Flamanville. Dieser sollte schon vor zehn Jahren fertig sein und die Kosten explodieren. In der Nuklearindustrie wird dennoch häufig die Meinung vertreten, dass man noch mehr auf Kernenergie setzen muss, um die Krise zu beenden. Macron hat Anfang 2022 angekündigt, mindestens sechs weitere EPR bauen zu wollen, von denen der erste erst in 15 Jahren in Betrieb genommen werden könnte. Wir sind das Land des nuklearen Irrsinns.

Wie können die erneuerbaren Energien in Frankreich stärker werden? Derzeit haben sie nur einen Anteil von etwa 25 Prozent.

Ich glaube an die eigene ökonomische Stärke der erneuerbaren Energien. An ihre Attraktivität für Investor*innen. Sie wird die Entwicklung beschleunigen und damit auch den Druck auf die Atompolitik erhöhen. Leider hat Frankreich sehr viele regulative Hürden in Bezug auf regenerative Energien errichtet. Kein Wunder konnten wir als einziges europäisches Land die Ausbauziele für erneuerbare Energien 2020 nicht erreichen.

Wie beurteilen Sie die Suche nach einem Endlagerstandort in Frankreich?

Meiner Meinung nach nehmen sich Regierung und Nuklearindustrie hier nicht genug Zeit, sind nicht vorsichtig genug. Sie wollen so schnell wie möglich ein Endlager errichten, damit das Nuklearprogramm weiterlaufen kann. Auch die EU-Taxonomie sieht ja vor, dass es einen Plan für ein Endlager geben muss. Das erzeugt insbesondere auf der lokalen Ebene einen sehr hohen Druck.

Meine größte Sorge ist derzeit die Zwischenlagerung von Abfällen und die Anhäufung von „wiederverwendbaren“ nuklearen Materialien. Die entscheidenden Lagerstätten sind nicht stabil genug und einige haben bald ihren maximalen Füllstand erreicht – das könnte Druck erzeugen, die Sicherheitsstandards zu reduzieren.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Christiane Weihe.

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Im Interview mit eco@work: Yves Marignac, Bereichsleiter Nukleare und fossile Energien bei der Association négaWatt.