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Im Fokus

Wo stehen wir zur Halbzeit der Energiewende?

Nach 35 Jahren

Christiane Weihe

Als das Öko-Institut im Jahr 1980 das Buch „Energiewende – Wachstum und Wohlstand ohne Erdöl und Uran“ vorlegte, zeigten die Wissenschaftler damit: Die Energiewende ist machbar. Seither ist in Deutschland viel passiert in Sachen Energiewende. Der Klimawandel hat das gesellschaftliche und politische Bewusstsein erreicht – und erfordert eine weitgehende Dekarbonisierung bis 2050. Der Ausstieg aus der Kernenergie wurde beschlossen, verzögert und wird nun bis 2022 in die Tat umgesetzt. Der Ausbau erneuerbarer Energien hat einen beachtlichen Boom erlebt. Treibhausgasemissionen wurden gesenkt, in manchen Sektoren mehr als in anderen. Der Weg zu einer nachhaltigen Energiezukunft ist von Erfolgsgeschichten und Fortschritten ebenso geprägt wie von Problemen und Rückschlägen. 2050 soll die Energieversorgung vollständig nachhaltig sein, 2015 ist Halbzeit Energiewende. Haben wir bei ihrer Umsetzung den halben Weg geschafft?

„Angesichts der weitreichenden Herausforderungen ist das schwer zu messen. Auf jeden Fall hätten wir in den vergangenen Jahren in einigen Sektoren mehr erreichen können und müssen, um sicher auf dem Zielpfad zu sein“, erklärt Christof Timpe, Wissenschaftler am Öko-Institut und Leiter des Bereichs Energie & Klimaschutz in Freiburg und Darmstadt. Er betont: Wie weit die Energiewende fortgeschritten ist und wie optimistisch man mit Blick auf die weitere Umsetzung sein kann, ist in den einzelnen Sektoren unterschiedlich. „Im Stromsektor zum Beispiel sind wir auf einem guten Weg, viel weiter als in anderen Bereichen. Es gibt einen relativ breiten politischen Konsens zu den Zielen der Energiewende in diesem Bereich und die meisten notwendigen Technologien stehen zur Verfügung. Die Dekarbonisierung ist hier durchaus zu schaffen.“ Natürlich sei auch die Stromerzeugung nicht ohne Probleme. „Es wird noch viele schwierige Entscheidungen geben“, sagt der Experte, „etwa mit Blick auf die Errichtung der Stromtrassen oder die künftige Rolle von Kohlekraftwerken.“

Einen zentralen Anteil an den Fortschritten des Stromsektors hat unbestritten der erfolgreiche Ausbau der erneuerbaren Energien. Laut der vorläufigen Zahlen der Arbeitsgruppe Erneuerbare Energien-Statistik (AGEE-Stat) hatten sie im Jahr 2014 einen Anteil von 27,8 Prozent am Bruttostromverbrauch. Mit einer Stromerzeugung von 161 Terrawattstunden (TWh) überrundeten sie im vergangenen Jahr zudem erstmals die Braunkohle (156 TWh). Zum Vergleich: Im Jahr 2000 waren es noch 36 TWh, die aus regenerativen Quellen stammten. Erneuerbare Energien sind in vielen Projekten des Öko-Instituts Thema – zentral ist dabei unter anderem die Frage, wie ihre Förderung in Zukunft gestaltet werden kann. Die Gewährleistung einer Einspeisevergütung für regenerativen Strom erfolgt seit dem Jahr 2000 durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG). Ein Gesetz, das 2016 erneut novelliert werden soll. „Bisher erhalten die Anlagenbetreiber pro Kilowattstunde eine weitgehend festgelegte Vergütung in Form von Stromerlösen und gleitender Marktprämie – egal, wie die Nachfrage aussieht“, erklärt Timpe, „in einigen Stunden mit Angebotsspitzen trägt das zur Entstehung negativer Preise an den Strombörsen bei.“ Das im Auftrag von Agora Energiewende entwickelte Reformmodell EEG 3.0 des Öko-Instituts sieht daher unter anderem eine fixe Kapazitätsprämie vor. „Welche systemdienliche Erzeugung stellt die Anlage bereit? Danach sollte sich die Prämie errechnen und damit auch die Erzeuger erneuerbaren Stroms am Risiko sich verändernder Börsenpreise beteiligen“, so der Wissenschaftler. Ziel des Modells ist eine möglichst wenig schwankende Produktion und damit eine Verminderung des Flexibilitätsbedarfs. „Bisher steht die maximale Stromproduktion im Mittelpunkt, nicht die Systemdienlichkeit.“

Neue Netze

Wesentlich für die Umsetzung der Energiewende ist auch der Umbau der Stromübertragungsnetze. „Für die Transformation zu einem auf erneuerbaren Energien basierenden Stromsystem müssen die Netze angepasst werden: Sie sind bisher für eine Stromerzeugung durch Großkraftwerke optimiert, die Energiewende bringt jedoch stärker schwankende Erzeugung und viele dezentrale Produzenten mit sich“, sagt Christof Timpe, „zusätzlich braucht es Flexibilitäten etwa durch Lastmanagement beim Konsumenten, Wärme- und Stromspeicher.“ Wann welche Flexibilitätsoptionen benötigt werden und vor allem wie hoch der Ausbaubedarf bei den Übertragungsnetzen tatsächlich ist, ist jedoch stark umstritten. „Es gibt viel Widerstand gegen den Netzausbau – wir führen das auch auf das sehr komplexe und für die Öffentlichkeit schwer nachvollziehbare Verfahren zur Erstellung des Netzentwicklungsplans zurück“, so der Experte, „dieser wird jährlich erstellt und beschreibt den Netzausbau des nächsten Jahrzehnts.“ Im Projekt „Transparenz Stromnetze – Erhöhung der Transparenz über den Bedarf zum Ausbau der Strom-Übertragungsnetze“ untersuchen die Wissenschaftler des Öko-Instituts daher mit Förderung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), wie die Bedarfsplanung nachvollziehbarer und damit das Verständnis für erforderliche Maßnahmen besser werden kann. „Ziel ist außerdem, die Szenarien für die Ausbauplanung zu verbessern“, erklärt der Wissenschaftler vom Öko-Institut, „dazu erstellen wir in Workshops mit Akteuren etwa aus Bürgerinitiativen und Umweltverbänden Entwicklungsszenarien für den Stromsektor und prüfen ihre Auswirkungen auf den Netzausbau.“

Die bisherigen Ergebnisse des Projektes zeigen, dass die Szenarien, die bisher dem Netzentwicklungsplan zugrunde liegen, durch Alternativen mit einem deutlich reduzierten Einsatz von Kohlekraftwerken sowie einer regional optimierten Verteilung der erneuerbaren Energien ergänzt werden sollten. „Es ist durchaus denkbar, dass sich nach einer Neufestlegung des Szenariorahmens für die Netzentwicklung die Notwendigkeit einzelner Leitungsprojekte anders darstellt als bisher,“ sagt Timpe, „die grundsätzliche Notwendigkeit zum Netzausbau, so zum Beispiel in Nord-Süd-Richtung, wird dadurch jedoch nicht in Frage gestellt.“

Problemfall Gebäude

Im Netzbereich besteht noch viel Uneinigkeit über das richtige Vorgehen. Ein echtes „Energiewende-Sorgenkind“ ist für die Experten des Öko-Instituts jedoch der Gebäudebereich. Timpes Kollege Veit Bürger nennt ihn eine „große Baustelle“, Probleme gibt es durch veraltete Heizungen ebenso wie durch schlecht isolierte Gebäude. „Seit Jahrzehnten gibt es Lippenbekenntnisse, dass man hier viel machen muss, politische Entscheidungen werden aber nicht getroffen“, so der stellvertretende Bereichsleiter. Besonders ärgerlich findet er es, dass steuerliche Abschreibungsmöglichkeiten bei der energetischen Gebäudesanierung gescheitert sind – „wenngleich auch diese nur ein Mosaikstein im Rahmen einer umfassenden Transformationsstrategie dargestellt hätten.“ Natürlich sei der Gebäudebereich kein einfacher Sektor – er ist zum Beispiel deutlich kleinteiliger als etwa der Stromsektor: „Man hat es mit vielen Millionen Hauseigentümern zu tun, da ist es natürlich schwieriger, schnell voran zu kommen.“ Wirksame Maßnahmen gebe es dennoch, so etwa die Einführung einer Klimaschutzabgabe, die Hauseigentümer je nach energetischem Zustand ihres Gebäudes zu zahlen hätten oder auch die langfristige Verpflichtung zur Sanierung. „Wir bräuchten zudem einen besseren Vollzug der bestehenden Vorschriften. Notwendig wäre hierfür zum Beispiel mehr kommunales Personal, das gewährleistet, dass die Gebäudestandards auch wirklich eingehalten werden“, sagt der Experte.

Mehr Effizienz im Gebäudebestand – dies war auch Thema des im Herbst 2014 abgeschlossenen Projekts Entranze. Dieses sollte Entscheidungsträger dabei unterstützen, politische Maßnahmen zur Effizienzsteigerung zu entwickeln. Am ausführenden Forschungskonsortium war auch das Öko-Institut beteiligt. „Für Entranze haben wir den europäischen Gebäudebestand und das Eigentümerverhalten analysiert sowie die Technologieakzeptanz und kostenoptimale Sanierungstechnologien untersucht“, erklärt Veit Bürger. Dies war die Grundlage dafür, die Wirksamkeit von Sanierungsinstrumenten bis 2030 einzuschätzen sowie Politikempfehlungen für den EU-Gebäudesektor zu erarbeiten. „Mit anspruchsvollen Zielen und innovativen Förderinstrumenten könnten bis 2030 die Treibhausgasemissionen in der EU um bis zu 50 Prozent sinken“, so der Wissenschaftler. Wichtig sei es zum Beispiel, Gebäude auf einen hohen energetischen Standard zu sanieren, Kohle- und Ölheizungen nach und nach auszutauschen sowie verstärkt energiesparende Beleuchtung einzusetzen. Um dies zu erreichen, muss nach Ansicht der Experten zum Beispiel in Deutschland die Energieeinsparverordnung (EnEV) konsequent weiterentwickelt werden. „Zudem müssen Eigentümer besser über energetische Sanierung und Förderung informiert werden. Und wir benötigen hohe Qualitätsstandards, damit eine energetische Sanierung auch die Einsparungen mit sich bringt, die man bei fachgerechter Ausführung erwarten kann.“

Leuchtturm in Komplexität

Betrachtet er die öffentliche Debatte zur Energiewende, spricht Christof Timpe klare Worte: „In den vergangenen zehn Jahren sind die Fragestellungen deutlich komplexer und damit schwieriger geworden, insbesondere, weil ein klassisches Schwarz-weiß-Denken an vielen Stellen einfach nicht mehr möglich ist.“ Der Bereichsleiter des Öko-Instituts meint damit zum Beispiel den weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien: Angesichts ihres bereits erreichten Anteils an der Stromversorgung sei es nun entscheidend, das gesamte Versorgungssystem an das weitere Wachstum der Erneuerbaren anzupassen. „Das ist viel komplexer als einfach nur möglichst viele neue Wind- oder Solaranlagen zu bauen.“

Auch 35 Jahre nach der ersten Energiewende-Studie sieht Timpe das Öko-Institut dabei in einer wichtigen Funktion. „Wir sind eine Art Leuchtturm und versuchen, in dieser komplexen Situation durch unsere Analysen den richtigen Weg aufzuzeigen“, sagt er, „das kann durchaus auch mal weh tun – etwa wenn es um die Zukunft der Kohlekraftwerke in Deutschland und Europa geht.“ Ob die Energiewende in 35 Jahren erfolgreich vollzogen sein wird, weiß Christof Timpe heute noch nicht. Was er weiß: Es ist möglich. „Die Treibhausgasemissionen können bis 2050 um 95 Prozent vermindert werden. Doch dafür braucht es konsequente und mutige politische Entscheidungen.“ Christiane Weihe