Spenden
Interview mit Lambert Schneider

"Wir sollten uns vom Gedanken der CO₂-Kompensation verabschieden"

Wie der freiwillige Kompensationsmarkt sich nach den Betrugsskandalen verändert hat, erläutert Lambert Schneider vom Öko-Institut im Gespräch mit klimareporter. Er plädiert für das alternative Konzept der "Klimaverantwortung" und kritisiert, wie die EU ihre CO2-Ziele durch Projekte im Ausland erreichen will.
  • Dr. Lambert Schneider
    Forschungskoordinator für internationale Klimapolitik / Senior Researcher Energie & Klimaschutz

Klimareporter°: Herr Schneider, noch vor ein paar Jahren konnte man "klimaneutrale" Steaks kaufen und "klimaneutral" in den Urlaub fliegen. Als dann die ersten Gerichtsurteile wegen Greenwashing und schließlich auch große Betrugsskandale öffentlich wurden, stürzte der freiwillige Kompensationsmarkt ab. Wie geht es dem Markt heute?

Lambert Schneider: Der Vertrauensverlust war enorm. Der Markt für Kompensationszertifikate ist 2023 deutlich eingebrochen. Wirklich überraschend waren die zugrunde liegenden Probleme allerdings nicht. Wir kennen seit 20 Jahren die eklatanten Integritätsprobleme des freiwilligen Marktes. Schon in der Vergangenheit haben diverse Studien diese Probleme belegt. 

Und dennoch ist der Markt bis 2022 rasant gewachsen. Wieso hat es so lange gedauert, bis diese Kritik an die Öffentlichkeit durchgedrungen ist?

Frühere Studien haben nicht dieselbe Aufmerksamkeit erhalten. Hinzu kommt, dass die Berechnung der Emissionsminderungen kompliziert ist und die Probleme nicht einfach zu erfassen sind.

Die Studie des niederländischen Wissenschaftlers Thales West und seiner Kolleg:innen, die 2023 den Einbruch des Marktes mit ausgelöst hat, hat Waldschutzprojekte analysiert. Dort war die Überschätzung der tatsächlichen Emissionsminderungen nicht nur besonders eklatant, sondern auch vergleichsweise anschaulich zu erklären.

Die Zeit und der Guardian haben in aufwendigen Reportagen darüber berichtet. Etwa in dieselbe Zeit fielen die ersten Greenwashing-Urteile, und Verbraucherschutzverbände wurden laut.

Das alles hatte eine große öffentliche Resonanz und veränderte den Markt nachhaltig. 

Der Kompensationsmarkt scheint sich wieder berappelt zu haben. Heute macht er wieder ähnliche Umsätze wie 2022. Was genau hat sich also verändert?

Es gab verschiedene Entwicklungen. Käufer, also vor allem Unternehmen, sind aus Sorge vor einem Imageverlust vorsichtiger geworden.

Die Krise hat aber auch neue Akteure auf den Plan gerufen, die die Integrität des Marktes verbessern wollen.

Das sind einmal unabhängige Ratingagenturen, wie BeZero Carbon, Calix Global oder Sylvera. Diese Agenturen haben mittlerweile die Qualität von etwa tausend Projekten bewertet, das schafft mehr Transparenz.

Dann gibt es den ICVCM, den Integrity Council for the Voluntary Carbon Market, eine Multi-Stakeholder-Organisation, die bessere Regeln und Mindeststandards schaffen will.  

Und damit lassen sich die Probleme des Marktes lösen?

All das hilft, aber löst nicht alle Probleme. Der ICVCM verstößt aus meiner Sicht immer wieder gegen seine eigenen Regeln und lässt auch nach wie vor Projekttypen zu, die die Klimawirkung überschätzen. Dazu gehören auch neuere Methoden zur Berechnung der Emissionsminderungen aus Waldschutzprojekten.

Die Ratingagenturen werden teilweise von den Anbietern der Projekte selbst beauftragt, was einen gewissen Interessenkonflikt befürchten lässt.

Grundsätzlich lässt sich sagen: Die Nachfrage nach hoch qualitativen Projekten hat zugenommen. Aber es gibt auch nach wie vor Projekte – und Käufer für Zertifikate von diesen Projekten –, bei denen vollkommen klar ist, dass sie kaum oder überhaupt nicht zu Emissionseinsparungen führen.

Und der Markt hat sich zwar erholt, aber er zeigt deutlich weniger Wachstum. Bis 2022 ist er enorm gewachsen und Unternehmen sind von einer Fortsetzung dieses Wachstums ausgegangen. Davon kann derzeit keine Rede sein.

Sie selbst waren Mitautor einer Metastudie, die letztes Jahr die Qualität und Glaubwürdigkeit verschiedener Projekttypen untersucht hat. Welche Projekte sind glaubwürdig, welche besonders fragwürdig?

Wir haben in unserer Metastudie zahlreiche Studien analysiert und damit etwa ein Fünftel des gesamten Marktvolumens abgedeckt – Zertifikate für die Kompensation von rund einer Milliarde Tonnen CO2.

Das entspricht in etwa dem jährlichen Treibhausgasausstoß von Deutschland und Frankreich zusammen.

Höchstens 16 Prozent der Zertifikate gingen mit tatsächlichen Emissionssenkungen einher, der Rest war "heiße Luft". Besonders schlecht schnitten Waldmanagement- und Windkraftprojekte ab.

Aber auch Kochofenprojekte, also der Tausch ineffizienter Herde oder offener Feuerstellen durch sparsame Kochöfen, hatten kaum tatsächliche CO2-Einsparungen zur Folge.

Gab es auch Projekttypen, die gut abgeschnitten haben?

In unserer Studie schnitten Projekte, die klimaschädliche Abgasströme in der Industrie unschädlich machen, am besten ab.

Ganz vorne lagen jene, die das Gas HFC‑23 – ein Abfallprodukt aus der Kältemittelproduktion, das tausendfach schädlicher ist als CO2 – gezielt zerstören, statt es einfach in die Atmosphäre entweichen zu lassen. Allerdings waren auch bei diesen Projekten nur etwa 68 Prozent der Zertifikate tatsächlich wirksam.

Also um die Frage zu beantworten: Nein, es gab keine Projekttypen, die gut abgeschnitten haben, aber welche, die im Vergleich besser abgeschnitten haben.

Ist das Problem die Umsetzung der Projekte, oder würde auch bei den besten aller Projekte die Gefahr bestehen, falsche Anreize zu setzen? Haben Entwicklungsländer etwa dadurch eine Motivation, besonders schwache Klimaziele zu formulieren, da sie von dem freiwilligen Markt finanziell profitieren?

Das ist eine berechtigte Sorge. Welche Anreize ein Projekt setzt, hängt stark von den Annahmen ab und unterscheidet sich von Land zu Land und von Projekt zu Projekt.

Wenn ein Unternehmen etwa Zertifikate aus Kolumbien kauft, unterstützt es damit das Land beim Erreichen seiner Klimaziele. Insofern könnte das Projekt sogar dazu beitragen, dass Kolumbien seine Ziele ambitionierter formuliert.

Allerdings wird dann die gleiche Emissionsminderung sowohl von dem Käufer als auch von Kolumbien auf die jeweils eigenen Klimaziele angerechnet.

Diese Art von Doppelzählung kann durch eine Bilanzierung unter Artikel 6 des Pariser Klimaabkommens vermieden werden. Dann rechnet Kolumbien die Minderungen aus seiner Klimabilanz heraus, und nur der Käufer des Zertifikats rechnet sich die Minderung an.

Aber auch das hat einen Haken. Denn dann hat Kolumbien eher einen Anreiz, sich schwächere Klimaziele zu setzen, um mehr Zertifikate verkaufen zu können und damit mehr Geld ins Land zu holen.

Hierzu war ich an einer Studie für das Umweltbundesamt beteiligt. Das Ergebnis: Eine eindeutige Antwort gibt es nicht – je nach Annahmen und Szenarien lassen sich sehr unterschiedliche Schlüsse ziehen.

Welchen Anreiz setzt der freiwillige Kompensationsmarkt zum Beispiel für Unternehmen aus Deutschland? Verleitet die Möglichkeit, für ein paar Euro Emissionen im globalen Süden zu kompensieren, nicht dazu, die nötige strukturelle Dekarbonisierung der eigenen Produktion aufzuschieben?

Wenn die Regeln für den freiwilligen Markt tatsächlich besser werden, dann wird es nicht mehr möglich sein, Zertifikate für wenige Euro je Tonne CO2 zu kaufen.

Wirklicher Klimaschutz kostet auch im Ausland Geld, zumal immer mehr Länder die kostengünstigen Klimaschutzpotenziale durch eigene Maßnahmen selbst heben. Oft kann es für Unternehmen sinnvoller sein, in eigene Klimaschutzmaßnahmen zu investieren.

Wo weitere Investitionen aber nicht mehr möglich sind, ist es sinnvoll, sich über die eigene Wertschöpfungskette hinaus für Klimaschutz zu engagieren. 

Kann trotz aller Probleme also der Kompensationsmarkt unter strengen Regeln eine wichtige Rolle beim internationalen Klimaschutz spielen?

Es ist sinnvoll, wenn Unternehmen über die Senkung der eigenen Emissionen hinaus Klimaschutz unterstützen. Wir sollten uns allerdings von dem Gedanken der CO2-Kompensation verabschieden.

Erstens wird es bei Minderungszertifikaten immer große Unsicherheiten geben, ob wirklich eine Tonne CO2 eingespart wurde – selbst mit besseren Regeln. Zweitens müssen wir unsere Klimaschutzanstrengungen erheblich verstärken. Ein reiner Ausgleich von Emissionen reicht dafür nicht aus.

Und drittens ist die Bewerbung von Produkten oder Unternehmen als "klimaneutral" irreführend, wenn diese tatsächlich noch Emissionen verursachen.  

Unter den Namen Klimabeitrag oder Klimaverantwortung sind Alternativen zur klassischen Kompensationslogik entstanden. Was verbirgt sich dahinter?

Hinter diesen Begriffen verbergen sich im Grunde zwei unterschiedliche Ansätze.

Einmal: Sehr viele Unternehmen kaufen weiterhin Zertifikate in Höhe ihrer Restemissionen. Unternehmen bewerben sich oder ihre Produkte aber nicht mehr als klimaneutral.

Der Hauptunterschied ist also, dass transparenter über die eigenen Emissionen kommuniziert wird, sonst bleibt im Grunde alles beim Alten. 

Daneben gibt es den Ansatz der Klimaverantwortung. Hier setzen sich Unternehmen ein Klimabudget, mit dem auf verschiedene Weise Klimaschutz unterstützt wird.

Das Budget könnte als Prozentsatz des Gewinns festgelegt werden oder sich an den Klimafolgenkosten der Unternehmensemissionen orientieren. Das Ziel ist hier nicht, eine bestimmte Menge an Zertifikaten zu kaufen, sondern mit einem festgelegten Budget eine größtmögliche Wirkung zu erzielen.

Ein Vorteil dieses Ansatzes ist, dass man so den ökonomischen Anreiz vermeidet, möglichst günstige Zertifikate zu kaufen und damit tendenziell eher schlechtere Projekte zu unterstützen.

Das Budget könnte auch für andere Zwecke als dem Kauf von Zertifikaten genutzt werden. Statt eines Klimaschutzprojekts in Afrika könnten Unternehmen auch eine lokale NGO unterstützen, die vor Ort gute Arbeit macht.

Diese Arbeit lässt sich meist nicht in konkreten Emissionssenkungen ausdrücken, kann aber am Ende deutlich mehr Einfluss haben als ein fragwürdiges Klimaschutzprojekt.

Finden diese Alternativansätze breite Anwendung?

Den Ansatz der Klimaverantwortung nutzen nach wie vor nur sehr wenige Unternehmen.

Aber die Kommunikation hat sich tatsächlich bei vielen Unternehmen verändert. Es wird seltener von Klimaneutralität gesprochen und öfter von einem Beitrag für das Klima.

Um es richtig kompliziert zu machen: Neben dem freiwilligen Kompensationsmarkt soll ein von den Vereinten Nationen überwachter Kompensationsmarkt entstehen. Festgeschrieben ist das in dem Artikel 6 des Pariser Klimaabkommens. Wie ist hier der Stand?

Relevant sind hier vor allem die Artikel 6.2 und 6.4 des Paris-Abkommens.

Unter Artikel 6.2 wurden Regeln verabschiedet, auf deren Basis Länder sich Zertifikate aus dem Ausland auf ihre Klimaziele anrechnen können. Unter Artikel 6.4 wurde ein neuer internationaler Standard für die Ausstellung von Zertifikaten etabliert, ähnlich den Standards im freiwilligen Markt, nur UN-überwacht und mit strengeren Regeln.

Bei Artikel 6.2 wurden die letzten Regeln auf der vergangenen Klimakonferenz in Baku fertiggestellt. Hier geht es jetzt an die Umsetzung.

Bei Artikel 6.4 ist das ein bisschen anders. Dieser neue Standard wird durch ein Aufsichtsgremium laufend weiterentwickelt. Dieses Jahr soll eine erste Methodik vorgestellt werden, um Emissionsminderungen zu quantifizieren.

Haben Sie den Eindruck, dass die bisher vorgeschlagenen Regeln für den Artikel‑6.4-Mechanismus besser sind?

Ja. Aus meiner Sicht sind die bisherigen Regeln deutlich besser als alles, was wir bisher hatten.

Aber wir sind da immer noch in einem frühen Stadium. Viele Detailregeln müssen noch entwickelt werden. Wir werden erst in ein paar Jahren wissen, wie gut dieser neue Standard wirklich sein wird.

Einige Grundprobleme bei dieser Art von Zertifikaten bleiben jedoch. Es ist methodisch sehr schwierig abzuschätzen, welche Klimawirkung ein Projekt wirklich hatte.

Bei der Berechnung der Emissionsminderungen müssen Annahmen darüber getroffen werden, wie hoch die Emissionen ohne das Projekt gewesen wären. Und es ist oft schwer zu prüfen, ob ein Projekt ohnehin umgesetzt werden würde – oder nur durch die Einnahmen aus den Zertifikaten ermöglicht wird.

Bei Waldprojekten muss langfristig sichergestellt werden, dass der Wald auch stehen bleibt.

Soll dieser UN-Mechanismus den freiwilligen Markt ersetzen?

Nein, der UN-Standard wird parallel umgesetzt werden. Spannend wird, wie stark sich die Standards im freiwilligen Markt an den UN-Regeln orientieren werden.

Werden sie die deutlich strengeren UN-Regeln übernehmen und somit Zertifikate generieren, die mit dem Paris-Abkommen konform sind? Oder werden sie einfach weiter ihre bisherigen Regeln beibehalten?

Die Europäische Union diskutiert derzeit, drei Prozent ihrer Emissionseinsparungen bis 2040 über internationale CO2-Gutschriften zu erreichen. Es hagelt viel Kritik, aber wenn die Regeln so streng sind, ist die Kritik vielleicht ungerechtfertigt?

Nein, ich sehe das ebenfalls sehr kritisch. Das Pariser Klimaabkommen sagt klar: Artikel 6 darf nur zur Ambitionssteigerung genutzt werden.

Das heißt, dass alle Länder den größtmöglichen Klimaschutz zu Hause erreichen müssen und internationale Zertifikate unter Artikel 6 nur nutzen dürfen, um darüber hinauszugehen.

Der Europäische Wissenschaftliche Beirat zum Klimawandel hat in einem Gutachten empfohlen, dass die EU ihre Emissionen bis 2040 um 90 bis 95 Prozent senken sollte, wobei sie dieses Ziel ohne internationale Zertifikate erreichen könne. Es ist daher nicht gerechtfertigt, wie jetzt von der EU-Kommission vorgeschlagen, eine Minderung um 90 Prozent mithilfe internationaler Zertifikate zu erreichen.

Anders wäre die Situation, wenn die EU entscheiden würde, dass sie nicht erst 2050, sondern schon 2040 klimaneutral werden möchte. Dann könnten hierfür internationale Zertifikate genutzt werden.

Ein weiteres Problem ist, dass die Nutzung von internationalen Zertifikaten den Klimaschutz innerhalb der EU verzögern kann. Je mehr Klimaschutz Europa auslagert, desto schwieriger wird es, 2050 tatsächlich klimaneutral zu sein.

Zu diesem Ziel hat sich die EU bereits international verpflichtet und darf dies nach den Regeln des Paris-Abkommens auch nicht mehr abschwächen.

Kritiker:innen stellen aber infrage, dass die EU oder auch Deutschland ihre Klimaziele ohne CO2-Gutschriften erreichen können. Was würden Sie entgegnen?

Es ist absolut möglich. Sowohl 2045 für Deutschland als auch 2050 für die EU. Das zeigen zahlreiche Studien. Diese Ziele zu erreichen ist eine Kraftanstrengung, aber wir müssen angesichts der Klimakrise ambitioniert handeln.

Dr. Lambert Schneider ist Forschungs­koordinator für inter­nationale Klima­politik am Öko-Institut. Er forscht seit mehr als 20 Jahren zu CO2-Märkten und ist an den UN-Klima­verhandlungen zu Artikel 6 des Paris-Abkommens beteiligt. Außerdem ist er Mitglied des CDM-Exekutivrats und des Experten­gremiums zum Anrechnungs­mechanismus des Pariser Klima­abkommens. 

Das Interview erschien zuerst bei klimareporter° am 2. Oktober 2025.

Keine Kommentare

Neuer Kommentar

* Pflichtfelder