AKW-Ausstieg: Russische Abhängigkeiten und Versorgungs(un)sicherheit
Abhängigkeit von Russland bei der Kernenergie beenden!
Die EU ist im Nuklearbereich von Russland abhängig – so importierte die EU im Jahr 20 Prozent des benötigten Urans aus Russland, aus den GUS-Staaten (Nachfolgestaaten der Sowjetunion) kamen 46 Prozent der Importe, nur 30 Prozent des in Europa verwendeten Urans kam aus westlichen demokratischen Staaten. Allein der Uranhandel brachte der russischen Wirtschaft so rund 455 Millionen Euro im Jahr ein, berichtete Tagesspiegel Background Energie & Klima nach Angaben von Euratom (7.10.2022).
Doch einige EU-Mitgliedstaaten sind auch nach dem Angriffskrieg auf die Ukraine noch immer nicht gewillt, diese Abhängigkeit zu beenden. Auch nach zehn Sanktionspaketen der Europäische Union gegenüber wichtigen Persönlichkeiten aus der russischen Politik und Wirtschaft und gegenüber Kohle, Gas, Öl, Stahl, Eisen und vielen weitere Produkten, bleibt die russische Atomindustrie und die Manager von Rosatom davon unberührt.
Doch nicht nur die EU kaufen angereichertes Uran aus Russland, auch in die USA wird weiterhin geliefert und es gibt auch keine US-Sanktionen für Uran und andere nukleare Dienstleistungen. Rosatom versucht außerdem seit langem, den globalen Markt für Brennstoffe und für den Bau von Atomkraftwerken zu dominieren. Abschnitt 4 stellt die globalen Abhängigkeiten und die Rolle Rosatoms beim Bau neuer Atomkraftwerke (AKWs) dar.
Deshalb ist klar: Wie beim Gas muss auch bei der Kernenergie die Abhängigkeit von Russland beendet werden. Versorgungssicherheit ohne Abhängigkeiten von totalitären Regierungen erfordert eine deutliche Reduktion der Kernenergie in Europa und keinen weiteren Ausbau. Es ist scheinheilig, nur beim Gas und Öl Sanktionen zu beschließen, während bei der Kernenergie die Abhängigkeiten nicht reduziert werden. Ohne die russischen Lieferungen werden Uran, die Urananreicherung und die Brennstäbe für europäische Kernkraftwerke deutlich teurer, Kernenergie würde damit noch deutlich unwirtschaftlicher und subventionsbedürftiger.
Energieversorgung auf eine sichere, erneuerbare Grundlage stellen!
Die Versorgungssicherheit durch AKW kann aber auch ganz ohne russische Abhängigkeiten gefährdet sein. Das zeigt das Beispiel Frankreich, das einen hohen Anteil von Atomkraftwerken an der Stromerzeugung hat, was zu großen Problemen der europäischen Versorgungssicherheit führen kann. So waren im Sommer 2022 mehr als die Hälfte der französischen Reaktoren – 33 Gigawatt (GW) von insgesamt 61 GW vorhandener AKW-Leistung – abgeschaltet. Das entspricht ungefähr der Leistung aller Gaskraftwerke in Deutschland. Die durchschnittlicher Nichtverfügbarkeit über alle Reaktoren in Frankreich betrug im vergangenen Jahr 118 Tage. Bereits 2018 waren das durchschnittlich 86 Tage pro Reaktor, das heißt der lange Ausfall vieler Kernkraftwerke ist schon seit Jahren ein Problem in Frankreich.
Zudem wurden in Frankreich letztes Jahr 12 der neuesten und größten Reaktoren wegen Spannungskorrosionsrisse abgeschaltet, die in drei Reaktoren auftraten. Neun weitere Reaktoren gleichen Bautyps wurden daraufhin stillgelegt, um zu untersuchen, ob sie auch von den Rissen betroffen sind. 20 Reaktoren waren wegen Wartungsarbeiten stillgelegt, davon sieben Reaktoren wegen einer zehnjährigen Sicherheitsüberprüfung während des ganzen Jahres. Im Sommer musste außerdem die Produktion der Kernkraftwerke gedrosselt, weil das Kühlwasser fehlte bzw. das warme Kühlwasser der Kernkraftwerke die Flüsse zu sehr zusätzlich aufgeheizt hätten.
Insgesamt sank 2022 aufgrund der Reaktorausfälle in Frankreich die Stromproduktion aus Kernkraft um 22 Prozent oder 81 Terrawattstunden im Vergleich zum Vorjahr. Diese erhebliche Produktionslücke musste im europäischen Stromverbund durch die Nachbarländer ersetzt werden. Sie wurde hauptsächlich durch eine höhere Stromproduktion mit Gas in Frankreich und durch höhere Stromimporte aus Deutschland, Spanien und Belgien ausgeglichen. War Frankreich 2021 mit 44,3 Terrawattstunden (TWh) noch das EU-Land mit den höchsten Stromexporten, wurde es 2022 selbst zum Stromimporteur von 16,4 TWh. Die Notwendigkeit der hohen Stromexporte nach Frankreich führte in Deutschland zu einer deutlich höherer Stromproduktion aus Kohle und Gas im Sommer 2022 im Vergleich zum Vorjahr (in der Periode Juni bis September 2022 lag die Stromproduktion in Deutschland aus Steinkohle um 23 Prozent höher als im Vorjahr, aus Braunkohle um 12 Prozent und aus Erdgas um 21 Prozent) und zu damit verbundenen höheren Treibhausgasemissionen.
Diese große Stromlücke in Frankreich trug neben der Gasknappheit auch erheblich zu den hohen Strompreisen in ganz Europa bei, weil in Frankreich, Spanien und Deutschland zum Ausgleich wesentlich mehr Strom aus Gaskraftwerken erzeugen mussten, deren Brennstoffkosten gerade durch die Decke gingen. Die unsichere einseitige Atomstromproduktion in Frankreich mussten damit auch die Verbraucher in den Nachbarländern teuer bezahlen. Durch den europäischen Stromverbund stiegen selbst in Norwegen die Strompreise erheblich, obwohl dort nur mit erneuerbaren Energien Strom erzeugt wird.
Stromlücke in Frankreich im Jahr 2022 und die Entwicklung der Strompreise
Stromlücke in Frankreich im Jahr 2022 und die Entwicklung der Strompreise, Quellen: nukleare Stromproduktion: Entso-e Transparency Platform, Strompreise Frankreich: Nordpool, Zusammenstellung Öko-Institut
Deshalb ist klar: Hohe Anteile an Kernenergie im Strommix gefährden die Versorgungssicherheit in Europa. Dennoch wird weiter so getan, als sei die Kernenergie eine sichere Energiequelle. Sie birgt zusätzlich große Risiken für die Versorgungssicherheit, weil bei Störfällen, Angriffen oder Unfällen große zentrale Erzeugungseinheiten ausfallen, die nicht einfach im Stromnetz ersetzt werden können. Eine dezentrale Energieerzeugung mit unterschiedlichen erneuerbaren Energien – kombiniert mit Stromspeichern – ist frei von solchen Risiken und bietet eine wesentlich höhere Versorgungssicherheit, die der der Kernenergie deutlich überlegen ist.
Energiewende statt Planungsunsicherheiten beim Bau neuer AKW!
Große Unsicherheiten bestehen auch bei der Planung und dem Bau neuer Atomkraftwerke, zumindest wenn man die westlichen AKW-Neubauten betrachtet. So zeichnen sich die jüngsten Bauprojekte durch extreme Verzögerungen bei der Fertigstellung und heftige Kostensteigerungen während der Bauphase aus. Kein anderer Energieträger hat solche Unsicherheiten bei der Planung und dem Bau. Zwar verzögern sich auch viele Projekte zum Bau von erneuerbaren Energien, aber die Dimensionen der Unsicherheiten sind kaum vergleichbar, wie Beispiele zeigen:
So wurde der Bau des dritten Reaktorblocks im finnischen Olkiluoto im Jahr 2003 ausgeschrieben. AREVA und Siemens bekamen den Zuschlag für den Bau eines EPR (European Pressurized Reactor), der 2011 in Betrieb gehen sollte. Zwanzig Jahre später ist der Reaktor nach zahllosen Verzögerungen immer noch nicht in Betrieb und der Testbetrieb ist nun für April 2023 geplant. Die Verzögerung des Projekts betrug 12 Jahre. Der Reaktorbau hat auch sämtliche Kostenprognosen mehrfach gesprengt.
Im März 2013 erhielt die französische EDF die Genehmigung für den Bau eines neuen Kernkraftwerks Hinkley Point C in Großbritannien. Die beiden Reaktoren sollten 2023 ans Netz gehen. Das Projekt liegt inzwischen um den Faktor 7 über den Kostenplanungen aus dem Jahr 2005. Zwischenzeitlich wäre das Projekt fast abgebrochen worden, die Regierung May entschied dann 2016 für die Fortsetzung. Erwarteter Fertigstellungstermin ist nun erst 2028 und die Kosten steigen weiter. Zwischen Vergabe und Fertigstellung werden mindestens 15 Jahre liegen.
In den USA wurde 2008 der Bau zweier neuer zwei Reaktoren (Vogtle-3 und Vogtle-4) vergeben, deren Bau 2013 begann. Die beiden Blöcke sollten bis 2017 und 2018 fertiggestellt werden. Auch hier wurde die Fertigstellung mehrfach verschoben, zunächst auf 2021 und später auf 2022. Der Block 3 wurde 2022 mit Brennelementen beladen und am 1. April 2023 mit dem Netz verbunden. Die Netzanbindung für Block 4 ist für das vierte Quartal geplant. Zwischen dem Vertrag zum Bau und der Inbetriebnahme liegen 15 Jahre, die geplante Bauzeit wurde um 6 Jahre überschritten. Auch hier stiegen die geplanten Kosten um das 2,5 fache.
Deshalb ist klar: Die Planung und der Bau neuer Kernreaktoren ist mit großen Unsicherheiten behaftet, was die Bauzeiten und die Baukosten angeht, und stellt für die beteiligten Regierungen und Energieversorger extreme Risiken dar. Die hier eingesetzten finanziellen Mittel fehlen für den Umbau der Energieversorgung auf Grundlage nachhaltiger, erneuerbarer Energien. Der Betrieb und der Neubau von Atomkraftwerken behindern daher die Energiewende und sollten daher zügig in ganz Europa beendet werden.
Neugebaute erneuerbare Energien gleichen bisherigen Strom aus AKW aus!
Im Jahr 2022 hat Deutschland knapp 33 Terrawattstunden Strom mit den verbleibenden drei Kernkraftwerken produziert. Gleichzeitig stieg im vergangenen Jahr die Stromerzeugung aus neu installierten Windkraftanlagen und PV-Anlagen um 20 Terrawattstunden im Vergleich zu 2021. Im Jahr 2023 werden Solaranlagen von mindestens 8,5 Gigawatt und Windenergieanalagen von 2,5 GW Leistung fertiggestellt (mehr als 2 Gigawatt der Solaranlagen gingen in den ersten drei Monaten des Jahres schon ans Netz). Wenn man die durchschnittliche Erzeugung der letzten drei Jahre pro Anlagenkapazität zugrunde legt, wird Deutschland durch die zusätzlichen erneuerbaren Anlagen 2023 ungefähr 13 Terrawattstunden Strom erzeugen. Das ergibt im Vergleich zu 2021 insgesamt eine zusätzliche Stromproduktion aus Wind und Solarenergie von 33 Terrawattstunden. Das bedeutet, dass die Lücke in der Stromerzeugung durch das Abschalten der Atomkraftwerke durch die zusätzlichen erneuerbaren Anlagen ausgeglichen werden kann.
Deshalb ist klar: Insgesamt ist die Stromversorgung in Deutschland im Jahr 2023 sehr sicher und die wegfallende Stromproduktion aus den deutschen Atomkraftwerken kann problemlos ausgeglichen werden. Es ist nicht wahrscheinlich, dass dadurch die Treibhausgasemissionen in Deutschland wie im vergangenen Jahr steigen werden, da der Ausgleich vor allem mit erneuerbaren Energien erfolgen wird.
Anke Herold ist Geschäftsführerin des Öko-Instituts. Sie war Verhandlungsführerin für die EU zur Transparenz unter der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen (UNFCCC). Ihr Arbeitsschwerpunkt ist die europäische und internationale Klimapolitik, insbesondere die Ausgestaltung des internationalen Klimaregimes.
Quellen:
Bloomberg 2022: US Redoubles Efforts to End Dependence on Russian Nuclear Fuel, 29. September 2022
BP Energy Review 2022
ESA (Euratom Supply Agency) 2022: Annual Report 2021, Luxembourg, doi:10.2833/99238
IAEA 2015: IAEA and Russia Sign Transit Agreement for IAEA Fuel Bank
IAEA 2019: IAEA LEU Bank Becomes Operational with Delivery of Low Enriched Uranium
Schneider, Mycle, Froggat, Antony. 2019: The World Nuclear Industry Status Report 2019. Mycle Schneider Consulting. Paris, Budapest.
Schneider, Mycle, Froggat, Antony. 2022: The World Nuclear Industry Status Report 2022. Mycle Schneider Consulting. Paris.
Tagesspiegel Background
Uranium One Group 2023: Our operations
WNA (World Nuclear Association) 2022: Uranium Production Figures, 2012-2021, updated July 2022
Alle Daten zur Stromerzeugung in diesem Beitrag stammen aus der Auswertung von Daten der Entso-e Transparency Platform der europäischen Energieerzeuger.
Daten zu den geplanten neuen Kapazitäten an erneuerbaren aus dem Marktstammdatenregister der Bundesnetzagentur, der Auswertung zum europäischen Strommarkt der Organisation Ember