Spenden
Im Fokus

Mehr als die Hälfte

Ein erneuerbares Stromsystem

Christiane Weihe

Sie sind jetzt in der Überzahl. Zumindest, wenn man aufs Stromsystem blickt. Denn erneuerbare Energien sorgten 2024 für fast 60 Prozent unseres Strombedarfs. Ein rasanter Anstieg in den vergangenen zehn Jahren – 2014 lag ihr Anteil noch bei knapp 26 Prozent. Wie geht es nun mit ihnen weiter? Bis 2030 sollen sie 80 Prozent der deutschen Stromnachfrage decken. Ist das möglich und realistisch? Und nicht zuletzt: Wie muss ein Stromsystem aussehen, in dem regenerative Energien die Hauptrolle übernehmen?

Die Zukunft ist elektrisch. Wohnen, fahren, wirtschaften – kaum etwas wird in einem klimaneutralen Energiesystem ohne Strom aus erneuerbaren Quellen auskommen. „Wenn sich Wärmepumpen und Elektroautos durchsetzen, erhöht sich die Stromnachfrage deutlich. Und auch in der Industrie sollen immer mehr Prozesse elektrifiziert werden. Das bedeutet auch: Wir werden immer mehr erneuerbare Energien brauchen, um die fossilen wie Kohle oder Erdöl zu ersetzen“, sagt David Ritter, Senior Researcher am Öko-Institut. „Die zentrale Rolle wird dabei die Stromproduktion aus Wind und Sonne spielen, da sie inzwischen am günstigsten ist.“

Flexibilität bringt Sicherheit

Wenn es aber keine Kohlekraftwerke mehr gibt, die je nach Bedarf hoch- oder runtergefahren werden können, und stattdessen die Erneuerbaren übernehmen, die nicht so leicht steuerbar sind – was bedeutet das für unser Stromsystem? „Auf den ersten Blick mag es schon ein bisschen gewagt wirken, sich auf Sonne und Wind einzulassen. Denn wenn es bedeckt und windstill ist, können sie uns keinen Strom liefern. Sie sind nur dahingehend flexibel, dass sich ihre Erzeugung reduzieren lässt“, sagt der Wissenschaftler aus dem Bereich Energie & Klimaschutz. „Wir müssen also auf anderen Wegen für Flexibilität sorgen, um Erzeugung und Verbrauch jederzeit in der Balance zu halten. Und wenn man hier auf die Möglichkeiten blickt, ist es schon gar nicht mehr so wagemutig.“ Ein zentraler Ansatzpunkt sind daher zum einen Batterien. „Sie funktionieren schon sehr gut und sind mittlerweile auch günstig zu haben“, so Ritter. „Allerdings sind die Anreize und damit ihr Betriebsverhalten aktuell zu stark auf Einzeloptimierung und zu wenig auf die Bedürfnisse des Stromsystems ausgerichtet.“ Wichtig ist zudem ein intelligentes Management des Stromverbrauchs. 

„Dazu gehört, den Strombezug zu verschieben und etwa das Elektroauto in der Nacht zu laden, wenn die allgemeine Stromnachfrage und damit der Strompreis niedriger sind als in den Abendstunden.“ Um dies in Gang zu bringen, brauche es variable Stromtarife, bei denen die Preise über den Tag variieren. „Alle Anbieter müssen diese inzwischen im Portfolio haben. Es ist aber noch viel zu intransparent, wie das genau funktioniert, daher gibt es viel Unsicherheit bei den Kund*innen.“ Für den Übergang zu einem Stromsystem mit noch höheren erneuerbaren Anteilen werde es zudem Gaskraftwerke brauchen, um Verbrauchsspitzen auszugleichen. Langfristig können diese dann mit Wasserstoff aus erneuerbaren Energien betrieben werden. „Wasserstoff sollte aber nur dann eingesetzt werden, wenn andere Stromerzeugungstechnologien ausgereizt sind. Denn seine Produktion ist sehr teuer und geht auch mit großen Energieverlusten einher.“

Ein neues Design

Ein weiterer wichtiger Schritt muss aus Sicht des Wissenschaftlers vom Öko-Institut sein, das bestehende Design des Strommarktes zu überdenken und neue Rahmenbedingungen zu etablieren, damit Angebot und Nachfrage möglichst effizient aufeinander abgestimmt und Investitionen in die Erzeugung und Flexibilitätsoptionen gewährleistet werden. „Erneuerbare Energien haben sich zu der günstigsten Stromerzeugungstechnologie entwickelt. Nun geht es darum, eine zuverlässige und stabile Stromversorgung zu gewährleisten, also auch steuerbare Kapazitäten wie Speicher und ein Lastenmanagement und damit die aktive Steuerung des Energieverbrauchs zu etablieren.“ Wichtig sei es zudem, dass erneuerbare Energien weitgehend ohne staatliche Förderung auskommen und sich größtenteils über den Strommarkt finanzieren. „Eine zentrale Frage ist hierbei, ob die Merit-Order in einem erneuerbaren Stromsystem noch funktioniert.“ Über sie wird im deutschen Strommarkt der Preis gebildet. Die Merit-Order legt die Reihenfolge fest, in der Kraftwerke ihren Strom einspeisen – der kostengünstigste Anbieter kommt zuerst. Weitere Kraftwerke folgen, bis der Strombedarf gedeckt ist. Der Preis definiert sich dann über das letzte zugeschaltete Kraftwerk und damit über die teuerste Erzeugungsart.

Die Analyse „Ein zukunftsfähiges Strommarktdesign für Deutschland“ des Öko-Instituts zeigt: Das bestehende Marktdesign und das Konzept der Merit Order funktionieren auch für die erneuerbaren Energien, aber das Design kann verbessert werden. „Ein wichtiger Punkt ist, wie Flexibilitäten systemdienlich angereizt werden können. Aktuell werden zum Beispiel Flexibilitätsoptionen in Haushalten nur für die Optimierung des Eigenverbrauchs verwendet – das sind in erster Linie Photovoltaik-Batteriesysteme, Ladestationen für Elektroautos und Wärmepumpen. Das ist aber zu kurz gedacht“, so David Ritter. Die Flexibilitäten sollten sich nach den Bedarfen des Strommarkts und der Stromnetze richten. „Dies gelingt durch dynamische Stromtarife, die bei einem hohen Angebot an erneuerbarem Strom niedrige Preise an die Endverbraucher*innen weitergeben. Oder durch zeitvariable Netzentgelte, die sich nach der Netzbelastung richten“, erklärt der Experte aus dem Bereich Energie & Klimaschutz.

Das Projektteam hat zudem Möglichkeiten diskutiert, wie erneuerbare Energien auch in Zukunft ausreichend finanziert werden können. „Ein zentrales Instrument können hier so genannte Contracts for Difference, kurz CfDs, oder auch Differenzverträge sein. Bei diesen gibt es einen garantierten Fixpreis für den erzeugten Strom. Erhält der Produzent am Markt weniger als diesen Fixpreis, gleicht der Abnehmer dies aus, erhält er mehr, bekommt der Abnehmer den Überschuss.“

Kosten fair verteilen

Gemeinsam mit der Stiftung Umwelt­energierecht untersucht das Öko-Institut noch bis 2026 für das Umweltbundesamt darüber hinaus, wie sich der Ausbau der erneuerbaren Energien und hier insbesondere von Photovoltaik sowie Windenergie an Land beschleunigen lässt. „Wir identifizieren Hemmnisse beim Ausbau und schlagen entsprechende Maßnahmen vor. Dazu gehört etwa die Frage, wie Photovol­taik-Freiflächenanlagen gestärkt werden können und wie der Genehmigungsrahmen für sie und Windenergieanlagen weiterentwickelt werden kann. Darüber hinaus analysieren wir, wie sich die Flächenausweisung für Windenergie weiter beschleunigen lässt.“ 

So zeigt die Untersuchung „Verteilung der Netzkosten der Energiewende“ im Rahmen des Projektes, wie sich diese fairer verteilen lassen. „Ausgangspunkt ist ein Beschluss der Bundesnetzagentur, der einen Ausgleich der Mehrkosten vorsieht, die durch die Integration von erneuerbaren Energien in das Stromnetz entstehen. Bei den heutigen Stromnetzentgelten bestehen regionale Unterschiede. Wer in einem Gebiet wohnt, in dem viele erneuerbare Energien ins Netz integriert werden, bezahlt höhere Netzentgelte. Diese unfaire Belastung der Stromkunden je nach Region ist mit Blick auf einen steigenden Anteil der Erneuerbaren nicht haltbar. Daher haben wir drei unterschiedliche Weiterentwicklungsmöglichkeiten betrachtet.“ Ein Ansatzpunkt sind Netzentgelte für die Einspeiser. „Dies senkt zwar die Entgelte, aber behebt nicht die regionalen Unterschiede.“ Auch so genannte transformationsgekoppelte Netzentgelte, bei denen Regionen mit einem hohen Anteil an erneuerbaren Energien entlastet werden, betrachtet der Senior Researcher kritisch. „Das zugrundeliegende Verfahren wäre wahrscheinlich zu komplex.“ Die Wissenschaftler*innen kommen daher zu dem Schluss, dass es bundeseinheitliche Netzentgelte braucht. 

Hemmnisse für Wind

Einen detaillierten Blick haben die Expert*innen des Öko-Instituts zudem im Auftrag der Elektrizitätswerke Schönau auf den Ausbau der Windenergie in Baden-Württemberg und seine Beschleunigung geworfen. „In Baden-Württemberg wächst der Anteil der Photovoltaik, der Windenergieausbau aber stagniert seit fünf Jahren. Wir haben die Ursachen hierfür analysiert sowie Ansätze, bestehende Hemmnisse zu überwinden.“ Das Projektteam führte eine Daten- und Literaturanalyse durch und befragte Projektierer*innen für Windenergieanlagen. „Dabei zeigte sich, dass für die Verlangsamung vor allem langwierige Prozesse bei der Flächenfindung und Genehmigung, hohe Pachten und steigende Kosten verantwortlich sind.“ Die Wissenschaftler*innen empfehlen zum einen eine Überprüfung, ob ausgewiesene Flächen tatsächlich für Windenergie nutzbar sind. So kann es etwa vorkommen, dass Eigentümer*innen Flächen nicht verpachten möchten oder ein wirtschaftlicher Betrieb von Windenergieanlagen dort schlicht nicht möglich ist. „Solche Flächen müssen dann natürlich durch andere, geeignete Flächen ersetzt werden.“ Wichtig sei es zudem, das Auktionsverfahren für Flächen im baden-württembergischen Staatswald zu ändern, um so regionale und bürgerschaftliche Projekte zu vereinfachen. „Ziel ist es, dass auch solche Projekte eine Chance haben, die ein überzeugendes Konzept haben, und nicht nur jene, die die höchste Pacht versprechen.“ Darüber hinaus braucht es aus Sicht des Projektteams eine bessere Zusammenarbeit der zuständigen Behörden und der Projektierer*innen und hierfür auch besser geschultes Personal.

Auch wenn sie inzwischen in der Überzahl sind, müssen noch zahlreiche Hemmnisse für die erneuerbaren Energien aus dem Weg geräumt werden. „Das lohnt sich aber, denn nirgendwo ist die Dekarbonisierung so einfach wie im Strombereich.“ Wichtig sei es daher nicht nur, den aktuellen Schwung beizubehalten, sondern ihn weiter anzutreiben. „Die Elektrifizierung muss in den Nachfragesektoren Industrie, Verkehr und Wärme weiter an Fahrt aufnehmen. Mit den richtigen Rahmenbedingungen sind die erneuerbaren Energien dem auch in Zukunft absolut gewachsen.“

---

Schon an der Universität Karlsruhe legte David Ritter ein besonderes Augenmerk auf erneuer-bare Energien – und tut das auch heute noch am Öko-Institut, für das er seit 2012 tätig ist. Im Bereich Energie & Klimaschutz befasst er sich unter anderem mit ihrem Ausbau und ihrer Finanzierung im Stromsektor. Darüber hinaus widmet sich der Diplom-Ingenieur für Elektro- und Informationstechnik unter anderem dezentralen Flexibilitätsoptionen.

Ansprechpartner am Öko-Institut

Weitere Informationen