
Flexibilität im Stromsystem: Herausforderungen und Ansätze
Bereits mehr als ein Drittel des Stroms in Deutschland stammt aus erneuerbaren Quellen. Die regenerative Stromerzeugung soll weiter ausgebaut werden und bis zum Jahr 2050 die fossilen Energieträger vollständig ersetzen. Diese Ziele haben Konsequenzen für das gesamte Stromsystem. Die Bereitstellung von Energie aus Wind, Sonne und Wasser schwankt je nach Tages- und Wettersituation – die Erzeugungsstruktur „fluktuiert“. Damit alle Verbraucher zu jedem Zeitpunkt ihren Strombedarf decken können, müssen sich andere Elemente des Stromsystems diesen Schwankungen anpassen: andere, weniger klimaschädliche Kraftwerke wie etwa Erdgaskraftwerke müssen flexibel zugeschaltet werden können; Speicher müssen variabel be- und entladen werden können; bestimmte Stromnachfrage muss bei Bedarf verschoben werden können (Lastmanagement).
Flexibilität im Stromsystem ist dabei aus Sicht des Öko-Instituts mehr als Speichermanagement. Es gibt neben dem Ausbau von Speichern weitere Optionen, die die Lücken in der Erzeugung von erneuerbarem Strom auffangen können. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Instituts forschen umfassend zu der Frage, wie viel solcher Flexibilität in verschiedenen Szenarien benötigt wird, welche Technologien heute und künftig verfügbar sind, zum flexiblen Einsatz des gesamten Kraftwerksparks, zu den Potenzialen von Lastmanagement, zu Kosten dieser Flexibilitätsoptionen sowie zu den ökologischen Auswirkungen der unterschiedlichen Technologien.
Umfassender Vergleich von Flexibilitäts- und Speicheroptionen
Mit der Studie „Systematischer Vergleich von Flexibilitäts- und Speicheroptionen“ haben die Expertinnen und Experten Ende 2016 eine Gesamtbewertung vorgelegt, zu welchem Zeitpunkt zusätzliche Flexibilitätsoptionen begleitend zum Ausbau der erneuerbaren Energien benötigt werden. Die Analyse, die vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) gefördert wurde, zeigt, dass mit den bestehenden Pumpspeicherwerken und dem bestehenden Kraftwerkspark ausreichend viel Flexibilität vorhanden ist, um Schwankungen der Erneuerbaren auszugleichen. Andere Optionen sollten zwar heute schon entwickelt werden, aber der weitere Ausbau der erneuerbaren Energien muss nicht auf zusätzliche Maßnahmen für mehr Flexibilität warten. Erst in Szenarien mit 60 Prozent erneuerbaren Energien im Strommix ist zusätzliche Flexibilität notwendig – aber auch hier reichen die heute technisch verfügbaren Optionen aus.
Das Forscherteam kommt zu dem Schluss, dass eine stärkere Nutzung des Lastmanagements vor allem in Industrie und Gewerbe eine attraktive Option ist, um Schwankungen der Stromeinspeisung im Tagesverlauf zu glätten. So sollte etwa der Betrieb von Kühlhäusern, Kläranlagen oder Wasserwerken oder auch die Produktion von besonders energieintensiven Gütern wie Aluminium oder Papier hochgefahren werden, wenn mehr erneuerbarer Strom zur Verfügung steht.
Auch über das Jahr 2030 hinaus analysierte das Forschungsteam Potenziale für den Ausbau der Flexibilitätsoptionen. Nicht zuletzt würden in der Zukunft (etwa ab einem Anteil von 80 Prozent erneuerbarer Energien) „Langzeitspeicher“ benötigt, die mit einer großen Speicherkapazität längere Flauten beim Wind überbrücken können. Hierfür könnten, so die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, neue Gaskraftwerke zum Einsatz kommen, die aus erneuerbaren Gas aus Power-to-Gas-Anlagen gespeist werden.
Ökologische Ausrichtung des Stromsystems insgesamt
In einer weiteren Analyse für Greenpeace Energy zeigt das Öko-Institut, dass eine Neujustierung des Stromsystems nach ökologischen Kriterien sowohl die Treibhausgasemissionen senken als auch Anreize schaffen kann, Strom klimafreundlich zu produzieren und zu speichern. Im heutigen Strommarktsystem entscheiden die Kosten der Brennstoffe darüber, welche Kraftwerke Strom produzieren und an der Börse verkaufen können. Nach dem sogenannten Merit-Order-Prinzip produzieren heute neben den erneuerbaren Energien-Anlagen vor allen Braun- und Steinkohlekraftwerke Strom. Würde der bestehende Kraftwerkspark nach ökologischen Kriterien eingesetzt, könnte Deutschland seine CO2-Emissionen im Stromsektor um bis zu ein Viertel reduzieren.
Dafür, so die Szenarien des Instituts, sollten Kraftwerke mit niedrigem CO2-Ausstoß, wie etwa Gaskraftwerke, den Vorzug erhalten vor Kraftwerken mit hohen CO2-Emissionen. Würden die Kraftwerke auf diese Weise nach ihrer Treibhauswirkung sortiert Strom erzeugen, könnte sich der CO2-Ausstoß in Deutschland schon heute um rund 79 Millionen Tonnen pro Jahr verringern. Dies hätte zwar etwas höhere Kosten für die Brennstoffe zur Folge, die aber deutlich unter den durchschnittlichen Kosten für den CO2-bedingten Klimawandel liegen. Die Studie analysiert und bewertet darüber hinaus den Beitrag weiterer Flexibilitätsoptionen zur möglichen Treibhausgasminderung sowie weitere ökologische Effekte dieser Optionen.
Studie „Ökologische Bereitstellung von Flexibilität im Stromsystem“ des Öko-Instituts
Infografik und Erläuterungen zum Merit-Order-Prinzip des Öko-Instituts (frei nutzbar, CC-Lizenz)
Offene Fragen: Europäischer Strommarkt, Ressourcen, neue Verbraucher
Einen Beitrag für mehr Flexibilität kann künftig auch der Stromaustausch im europäischen Netzverbund leisten. So könnten Überschüsse aus erneuerbaren Energien, die in einem Land entstehen, besser in anderen Ländern genutzt werden. Dafür muss der Ausbau des europäischen Stromnetzes vorangetrieben werden. Die Interaktion zwischen dem deutschen Stromsystem und den möglichen Entwicklungen in den europäischen Nachbarländern untersucht das aktuelle Projekt „Die Energiewende im deutschen Stromsystem im Kontext der zukünftigen Entwicklungsmöglichkeiten in Europa bis 2050“, das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) gefördert wird.
Die Expertinnen und Experten stellen zudem weiterführende Fragen zu den regulatorischen Rahmenbedingungen der weiteren Entwicklung von Flexibilitätsoptionen. Hier geht es nach Auffassung des Öko-Instituts zunächst darum, die vielfältigen Barrieren für den Aus- oder Aufbau der verschiedenen Technologien abzubauen. Nur so können die Flexibilitätsoptionen die Möglichkeit bekommen, entsprechend ihrer Fähigkeiten auf die Preissignale im Strommarkt zu reagieren – also etwa Strom zu speichern bei einem hohen Angebot oder aus den Speichern in den Markt zu geben, wenn der Bedarf steigt.
Darüber hinaus entstehen mögliche Konflikte mit anderen Nachhaltigkeitsproblemen etwa beim Ressourcenbedarf, der entsteht, um beispielsweise leistungsfähige große Batterien zur Speicherung von erneuerbarem Strom herzustellen. Und nicht zuletzt werden in den kommenden Jahren mit dem Zuwachs bei den Elektrofahrzeugen viele neue, kleine Stromverbraucher, die gleichzeitig als Speicher fungieren können, in das Stromsystem Einzug halten. Wie diese optimal integriert werden können, um die Vorzüge für die flexible Stromspeicherung auszunutzen, muss in den kommenden Jahren weiter untersucht werden.
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